Wenn man in Berlin wohnt, kommt man um den 1. Mai kaum herum. Wenn man in Friedrichshain und Kreuzberg wohnt, noch viel schwieriger. Irgendwann verwächst der Tag mit der eignen Biografie. Wenn man Pech hat, sitzt einem dieses Datum noch für Ewigkeiten im Strafregister. Wenn man Glück hat, taucht man unter den Tausenden unter, die an dem Tag unterwegs sind. Gleichwie, der 1. Mai prägt die eigene Sichtweise: auf Formen linksradikaler Politik, auf militanten Widerstand, auf Menschen, die sich nicht mehr anders artikulieren können oder wollen als mit dem Stein in der Hand. Aber auch: auf eine Polizei, die seit Jahren auf dem Rückzug ist, die ihr Machtgehabe aufgegeben hat, die nicht mehr große Gesten mit dem Wasserwerfer fährt, sondern klammheimlich mit der Strategie der ausgestreckten Hand nach realen oder vermeintlichen Tätern greift.

Es ist ein komisches Gefühl, wenn man mal nicht am 1. Mai in Berlin ist. Nicht Dutzenden von Bekannten begegnet, die man seit Monaten nicht gesehen hat, die sich aber immer zur Walpurgisnacht oder am Tag der Arbeit blicken lassen. Sich keine riesigen Rauchschwaden vom MyFest, der Zelebrierung der Befriedung Kreuzbergs, über dem Bezirk erheben.

In Washington D.C. wurde zum 1. Mai mobilisiert. Obwohl ja der eigentliche Feiertag der labors day ist, irgendwann im September, wohl um von den Erschießungen beim ursprünglichen 1. Mai 1886 in Chicago abzulenken. Eine starke und lebendige Erinnerungskultur ist nur selten vom bürgerlichen Staat erwünscht, wenn es sich um Arbeiterbelange handelt. Trotzdem wurde auch von linksradikalen Gruppen in DC zum mayday dc aufgerufen, der erst aus einem Fest im Malcom X Park bestand und dann später zu einem Marsch zum Weißen Haus quer durch die Stadt einlud.

Mir wurde erzählt, dass es kaum Traditionen hinter dem Tag gibt. Kaum einer kann sich an Demonstrationen in dem Zusammenhang erinnern und das mag symptomatisch für die junge linksradikale Bewegung sein, die sich in den USA gerade herausbildet. Unter dem Label „Occupy“ kommen, anders als in Deutschland, verschiedenste Gruppen und Initiativen erstmals seit Jahren zusammen, um gemeinsam Politik zu erarbeiten und zu machen. Tatsächlich sind in den Camps und bei den Workshops von unions über anarchists zu den stalinistischen oder trotzkistischen communists alle vertreten. Alte Gewerkschaftsarbeiter geben jungen Studenten einen Einführungskurs in Arbeiterkampfhistorie, Weiße Black Bloc Aktivisten zeigen jungen Lationos, wie man Plakate und Transparente gut sichtbar bemalt. Die Aufbruchsstimmung ist schon etwas abgeflaut, und es sind immer noch verdammt wenige Menschen, die sich in dieser Szene bewegen, aber ein wichtiges Gefühl für viele ist: „Occupy“ bleibt. Und mit der losen Idee, die „Occupy“ verkörpert bleibt auch die Bereitschaft für Bündnisse und für nachhaltiges politisches Zusammenwirken.

Dabei ist das Konzept kritikwürdig: das Besetzen von Parks ist schon vom Gedanken her eine temporäre Sache – anders als ein Haus ist ein Zelt in Momenten zerstört und bietet keine langfristige Perspektive. Es ist zwar eine Solidaritätserklärung an diejenigen, die aus ihren Häusern vertrieben wurden und nun in Zeltstädten unter argen Bedingungen leben, aber zu mehr reicht es nicht. Auch die Ortswahl mag auf den ersten Blick richtig erscheinen, ist sie doch direkt am Zentrum der Macht, in der Downtown, wo sich kaum ein Entscheidungsträger der Occupy-Präsenz entziehen kann. Wenn man aber darüber nachdenkt, fehlt es an Bindung zu den Menschen, die faktisch oder potentiell betroffen sind, diejenigen, die diese Infrastruktur um Occupy dringend nötig haben. Ihnen muss das Wissen, die Organisierung und die Workshops zur Selbstermächtigung dienen.

Die kleinen Gruppen, meist nicht mehr als 10, 20 Leute, die vorher einen politischen Zusammenhang bildeten, haben sich jetzt in Washington D.C. in einem größeren, über 100 Personen fassenden Kollektiv eingebracht. Im Vergleich zu New York, Seattle und anderen großen Occupy-Zusammenhängen ist das lokale Bündnis klein und relativ kraftlos. Die Demonstration zum Weißen Haus wird von gut 250 Leuten getragen, 10 Polizeiautos und 4 Motoräder sichern die Veranstaltung. Es gibt keine Aufreger, keine Polizeigewalt, keinen Black Bloc. Es fliegen keine Steine, Barrikaden brennen nicht. Die Themen sind durchaus die gleichen wie in Berlin und Barcelona: soziale Ungerechtigkeit natürlich, Kapitalismuskritik in Zeiten der Krise, Selbstermächtigung der Menschen. Auch in D.C. spielt Gentrifizierung eine große Rolle – die ehemals als unsicher geltende Innenstadt ist inzwischen Aufwertungsgebiet. Inzwischen schätzt man als Anzugträger den kurzen Weg zur Arbeit, die schicken Lokale gleich um die Ecke und das umweltschonende Fahrradfahren. Viele Gebiete im Nordwesten der Stadt sehen aus wie Prenzlauer Berg. Darüber beschweren sich auch hier die Menschen, die sich die $1000 und aufwärts Miete pro Monat und Zimmer nicht leisten können. Der Stadtrand ist kaum eine Option, was man an Miete spart, muss man für die öffentlichen Verkehrsmittel wieder drauflegen. Erst einige Städte später findet man etwas Linderung – hat aber einen Arbeitsweg von mehreren Stunden.

Am Endpunkt der Demonstration, vor dem Weißen Haus, beginnen dann rechte Islamhasser zu provozieren. Zwei Fahnen schwenkended kommen Sie an, die Reichskriegsflagge gleich neben der israelischen Nationalfahne. Als Deutschem bleibt einem da erstmal ein Kloß im Hals stecken. Begründet wird die provozierenden Flaggenkombination damit, dass der Großvater 1919 in Deutschland unter dieser Flagge gegen die Kommunisten gekämpft hat (wohl also Freikorps oder SPDler war) und dass Israel wegen den kommunistischen Massentötungen in der UdSSR gegründet worden sei. Die amerikanischen linken Aktivisten interessieren sich gar nicht für die Reichskriegsflagge, aber die Israelfahne ist ihnen ein Graus: sie schimpfen über den Apartheidstaat, über Menschenrechtsverletzungen und den faschistischen Charakter des Staates. Bei all den progressiven Entwicklungen, über die man in der Organisation und Vernetzung berichten konnte, bleibt in der Ideologie nur Ernüchterung übrig. Linksradikale Kritik hängt sich sich größtenteils an Konsumkritik auf und will große Konzerne und „das Kapital“ a.k.a. die 1% a.k.a. die Männer im Schatten angreifen. Genauso wie die amerikanische Rechte ist auch die Linke anfällig für Verschwörungstheorien und wohl auch für antisemitische Auswüchse. Dominierend ist ein, in der deutschen Verständnisweise, antiimperialistischer Duktus, der sich gleich der Kapitalismuskritik an einzelnen Staaten festmacht: USA, Israel, Großbritannien. Diskussionen darüber stoßen auf Unverständnis und Ablehnung.

Festzuhalten bleibt: in Washington D.C. hat Occupy einer linksradikalen Bewegung geholfen sich zu verbreitern und zu vernetzen. Es hat Plattformen und Wissensspeicher geschafft. Da die Bewegung aber an sich ideologiefrei ist und sich nur durch Bewusstsein der sozialen Lage (99% vs. 1%) definiert, gibt es wenig ideologische Reflektion. Die Feinde stehen fest, die Ziele sind so unklar wie verzweigt. Auch das Konzept Occupy hat Stärken und Schwächen. Es hat vorher vereinzelte linksradikale Gruppen zusammengebracht. Aber es ist nur temporär und muss sich in eine Richtung entwickeln, wo es dauerhaft sich in den hoods verankern kann und eine radikale Kiezinfrastruktur aufbauen kann.

Bemerkenswert ist es allemal, dass Occupy es geschafft hat den 1. Mai nach Amerika zu bringen. In manchen Gebieten sogar mit heimatlich anmutenden Szenen: Seattle erlebt Attacken auf Banken, Flagshipstores und Stadtgebäude. New York hat über 30.000 Menschen auf den Straßen, es bildet sich ein Black Bloc. Und aus anderen Städten hört man ähnliches.

Für Seattle, Chicago und New York ist die Entwicklung relevant für die nächsten großen Punkte der Bewegung. Die NATO-Konferenz, die Ende Mai in Chicago stattfindet, soll blockiert werden, die Mobilisierung dorthin ist für amerikanische Verhältnisse riesig. Die G8-Konferenz, die nur wenige Tage vorher stattfinden soll, geht dabei etwas unter. Ursprünglich war sie auch für Chicago geplant, aufgrund der starken Mobilisierung wurde sie aber nach Camp David verlegt – Maryland, gleich neben Washington D.C. – eine lokale Mobilisierung ist bisher nicht existent. Dafür haben sich New Yorker Aktivisten angekündigt und wollen sich Richtung Camp David aufmachen.

Man mag murmeln: Change. But not the way you thought.

 

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