Wenn der Zug schon abgefahren ist, besser nicht alleine dastehen.  (Foto: Uwe Steinert | Lizenz: CC BY-NC 2.0)

Wenn der Zug schon abgefahren ist, besser nicht alleine dastehen.
(Foto: Uwe Steinert | Lizenz: CC BY-NC 2.0)

 

Disclaimer: Ich bin weder Parteimitglied der Piraten noch der Linken. Der Artikel richtet sich vor allem an ausgetretene Pirat_innen oder solche, die sich für die kommende Wahl aufgrund des Parteizustandes nicht mehr engagieren wollen. Weitere Gedanken zur Positionierung einiger Pirat_innen in der (radikalen) linken Bewegung vgl. auch den Artikel vom 12. März 2014.

Der Sommer 2015 trägt die ersten Blüten des Wahlkampfes für die Berlin-Wahl 2016. In den nächsten Monaten werden Wahlkreise vergeben, Listen aufgestellt, Programme erarbeitet. Und wenn diejenigen, die 2011 und danach für orange-emanzipative Politik angetreten sind, diese auf dem parlamentarischen Weg fortführen wollen, dann ist es jetzt an der Zeit, die geeigneten Partner_innen zu suchen. Denn mit den Piraten wird es – trotz in einigen Bereichen beeindruckender Oppositionsarbeit im AGH – aller Voraussicht nach keinen anknüpfenden Wahlerfolg geben, der den Sprung über die 5%-Hürde ermöglicht.

Diese Entwicklung wird niemanden überraschen, der sich mit dem innerparteilichen Zustand der Piraten in den letzten 2 Jahren beschäftigt hat. Ihren Höhepunkt fand diese Entwicklung im Bundesverband der Piraten zum außerordentlichen Bundesparteitag in Halle, wo der Parteirechten nach taktischen Manövern die Übernahme des Vorstandes gelang. Der emanzipative Teil der Partei zog sich daraufhin in eine eigene Organisierungsform zurück. Es bleibt jedoch zu konstatieren: der Plattformansatz der Piraten ist weitestgehend fehlgeschlagen. Die Progressiven Plattform der Piraten hat zwar Parteilinke sammeln können (und sich auch durch die Geschlossenheit vor dem rüden Umgangston innerhalb der Partei schützen können), aber ein gestalterisches Moment blieb wohl aus; nach Außen ist sie nicht wahrnehmbar und bietet keine politische Alternative zum dominierenden Bundesvorstand.

Kaum im Fokus steht der Berliner Landesverband, welcher selbst eine Art organisatorische Plattform in Abgrenzung zur aktuellen Bundesparteiführung vollzieht. Während die Politik vor allem über die Fraktion läuft, scheint die Basis sich verlaufen und erschöpft zu haben. Die vom Bundesvorstand ausgegebene Parole der Fokussierung auf die Kernthemen kann – selbst wenn man sie als legitim betrachten würde – in Berlin keinen Erfolg haben: die wahrnehmbaren Probleme der Stadt liegen hier in ganz anderen Bereichen: seien es die komplett unterfinanzierten (Bezirks-)Verwaltungen, seien es die kostspieligen Bauprojekte und sie begleitende Korruption, sei es die Aufnahme von geflüchteten Neuberliner_innen. Unter Schwarz-Rot haben wir zwar im vereinigten Berlin einen (den ersten?) Überschusshaushalt gehabt, aber dafür eine komplett heruntergewirtschaftete Stadt bekommen. Wähler_innen kümmern sich nicht um die IT-Infrastruktur der Schulen, wenn ihre Kinder nur unter Ekel die Klos benutzen können. Netzpolitik und Digitalisierungsagenden werden keines dieser Probleme auch nur symptomatisch lösen können.

2011 sind die Piraten unter anderem als implizite Konkurrenz zur abstürzenden Linkspartei in den Wahlkampf gegangen. Die Probleme von 2010/2011 innerhalb der LINKEN können sicherlich Menschen, die in der Partei organisiert sind, besser zusammenfassen (und über – ggf. publizierbare – Anmerkungen dahingehend würde ich mich freuen), mein damaliger Eindruck war vor allem die K-Diskussion: dogmatischer Kommunismus als Gesellschaftsideal wurde genauso vertreten, wie ein durchgehend unkritischer Bezug auf die staatssozialistische Umsetzung durch die SED. Mauertote wurden gerechtfertigt und der Bundesvorstand agierte zumindest symbolisch in konsequenter Fortführung zur SED-Alltagspolitik. Diesem dogmatische Plakativsozialismus stand die z.T. linksradikale Ausrichtung der überdrehten und naiven Piraten gegenüber, die am Ende vielleicht auf die gleiche Politik hinauswollten, aber dabei mit einer emotional überzeugenderen Rechtfertigung daherkamen. Und: im Gegensatz zu der LINKEN hatten sie einen Vertrauensvorschuss, während die LINKE ihr Vertrauen durch den schwachen Politikstil gegenüber der SPD in der Landesregierung 2002 – 2011 weitestgehend verspielt hatte. Nicht zuletzt waren die Wähler_innen der Piraten 2011 vor allem eines: links!

Aber in den letzten Jahren ist viel passiert. Die damals ins Abgeordnetenhaus gewählten Piraten haben mehrheitlich ihre Naivität abgelegt (mit unterschiedlichen Ergebnissen) und bilden insbesondere zusammen mit der Linksfraktion eine treibende und kritische Opposition, ab und an ergänzt durch die Bündnis-Grünen, die sich nur allzuoft im wahltaktischen Flirt sowohl mit SPD als auch CDU befinden. Aber auch die LINKEN haben sich parteiintern weiterentwickelt. Progressive Kräfte (das ist in der Linken übrigens der „rechte“ Flügel) haben sich an zentralen Positionen eingearbeitet, sind vernetzt und verjüngen die Partei deutlich. Während sich die Partei auf Bundesebene schwertut, durch die Bundestagsfraktion ein tiefer Riss geht und die Antisemitismus-Frage weiterhin jede politische Ambition tief verdunkelt, steht der Landesverband weitestgehend stabil da. Und das macht sich auch an den Umfragewerten bemerkbar, die sich nach einem kurzen Hoch von 18% gerade bei 15% einpendeln. Und der Wahlkampf hat gerade erst begonnen …

Mit einem undogmatischen, linken bis linksradikalen Verständnis von Stadtpolitik kann man, so von der Seite der Linken aus Interesse besteht (auf Bezirksebene ist dies bereits regelmäßig der Fall), diesen Modernisierungsprozess unterstützen. Und während man sich bei den Piraten vom Teilaspekt der digitalen Teilhabe den Gesamtaspekt gesellschaftliche Teilhabe mühsam ableiten musste (und dabei ganz offensichtlich einen nicht unbedeutenden Teil im Denkprozess verloren hat), ist bei den LINKEN das Gesamte schon umrissen: es geht um die „Entwicklung einer demokratisch-sozialistischen Gesellschaft“.

Es ist klar: an vielen Stellen ist Überzeugungsarbeit und Auseinandersetzung notwendig: dort, wo die Worte „sozialistisch“ und „demokratisch“ ausgefüllt werden müssen; dort, wo sich Dogma gegen Freigeist stellt; dort, wo analoge Führungsstrukturen auf digitales Floating zwischen alle Organisationsstrukturen stoßen. Viele parteidemokratische Errungenschaften, die besonders Parteimitglieder der Piraten lieb gewonnen haben, werden grundlegend in Frage gestellt werden, müssen neu erkämpft werden. Gleichzeitig bietet sich die Chance auf einen effektiven Neuanfang: mit arbeitsfähigen Strukturen, einem weit entwickeltem Programm und erfahrenen Basis- und Kommunalaktivist_innen.

Die LINKE gewinnt dabei Menschen, die das Parteiprofil signifikant erweitern können; die mit einem tiefen Verständnis von digitalen Grund- und Menschenrechten, von effizienten Verwaltungsstrukturen durch digitale Prozesse (und ihre transparente Abbildung), von nachhaltiger Inklusionspolitik, von modernen Machtverhältnissen und Strategien gegen die ihr innewohnenden Diskriminierungen, von Stärkung einer fairen (Nicht-nur-IT-)Wirtschaft (und den dem entgegenstehenden Problemen wie z.B. prekäre Arbeitsbedingungen) und einer frechen und fordernden Innenpolitik punkten. Diese Aktivist_innen genießen das (Rest-)Vertrauen derer, die nicht im Fokus der klassischen und klassenkampfbasierten Linken stehen, aber trotzdem das Herz am schönsten, moralischen Fleck haben. Und sie sind hungrig danach, sich einbringen zu können. Alles, was es erfordert, ist die Öffnung: der Partei und der Köpfe.

In diesem Zusammenhang besteht für die LINKE in Berlin in Handlungsbedarf. 2016 kann die Linke keinen reinen Oppositionswahlkampf machen, sondern muss sich als solide Alternative zu Schwarz-Rot oder Schwarz-Grün (vielleicht sogar Schwarz-Braun?) präsentieren, um gestalterische Aufgaben in Berlin zu übernehmen. Sie muss sich die Frage gefallen lassen, ob sich ihre Politik in der vergangenen Regierungsverantwortung von 2002 bis 2011 konsequent und links genug äußerte. Gerade in den zentralen Themen muss dabei eine konsequente Aufarbeitung nach Außen erfolgen: welche Versäumnisse und strukturellen Defizite gab es z.B. in der Flüchtlingspolitik der Stadt unter Beteiligung der Linken? Und was soll diesmal anders gemacht werden? Vielleicht wäre das auch eine gute Frage der Partei an die emanzipativen Aktivist_innen dieser Stadt, die Parlamentarismus nicht grundlegend ablehnen: wenn die Linke in Regierungsverantwortung gelangt, welche Programmpunkte kann sie preisgeben, welche sind die Schwerpunkte, die durchkommen sollten? Was muss sich grundlegend ändern? Und wo kann ich mich einbringen, um diesen Prozess zu begleiten, zu beeinflussen?

Der systematische Wechsel von Aktivist_innen der Piraten und ihres Umfeldes erscheint mir ein im Hinblick auf die anstehenden Wahlen wünschenswert und für beide Seiten stärkend zu sein. Der Zeitpunkt ist passend, führt die Diskussion darüber in den Parteien und Arbeitsgruppen. Eine Mitarbeit beim Wahlprogramm kann moderne Akzente setzen. Die Listen können strategisch ergänzt, die Kommunalpolitik mit neuen Impulsen verstärkt und schon begonnen Zusammenarbeiten fortgeführt und intensiviert werden.

Und nicht zuletzt: gegen die Gefahr, die von der AfD und dem rassistischen Mob auch in Berlin ausgehen wird, ist eine starke linke Bewegung notwendig, die in ihren Aktivitätsbereichen mit möglichst wenig Reibungsverlusten zusammenarbeitet, um eine konsequente und kraftvolle Gegenbewegung zu jeder rechten Einflussnahme zu bieten. Es wäre fatal, sollten Potentiale der parlamentarischen linken Parteien zersplittern und an der 5%-Hürde scheitern und damit das Ergebnis schwächen.

 

4 Responses to Links anklopfen! – Emanzipative Parteipolitik nach den Piraten zur Berlin-Wahl 2016

  1. Pascal sagt:

    Spannende Ideen. Ich möchte nur zwei Dinge zu bedenken geben:

    1. Weshalb sollte sich die Linke gegenüber (dem vernünftigen Teil der) Piraten in größerem Stil öffnen, jedenfalls was “gute“ Listenplätze angeht? Gerade für die *klassischen“ Politkfelder hat die Linke wie alle Parteien vermutlich genug “eigene“ Leute. Ob die Piraten im Gegenzug “etwas anbieten“ können ist zumindest fraglich. Da kann es eigentlich nur um den Transfer der Stimmen gehen, die 2011 an die Piraten gingen.

    2. Die Linke in Regierungsverantwortung hat bisher einige Dinge geleistet, die mit emanzipatorischer, linker Politik nicht viel zu tun hatten. Beispielsweise hat die Linke den Kurs der Privatisierung mitgetragen. Wenn man daher nun das Loblied auf die gute linke Oppositionspolitik singt, bleibt zumindest zu klären, wie viel davon in einer erneuten Regierungsbeteiligung übrig bleibt. Denn im Gegensatz zur Bundes-Linken strebt die Berliner Linke das ja durchaus an.

    • Hannes sagt:

      Zu 1. Ich glaube nicht, dass es da ein tatsächliches Geschacher um die Listenplätze geben zum AGH geben muss, weil die potentiellen Wechsler_innen sich da keine großen Hoffnungen machen sollten abseits von strategischer Platzierung (was ich damit meine, schicke ich dir privat). Auf kommunaler Ebene sieht das m.E. anders aus und gerade Westbezirke können da jede Unterstützung gebrauchen, die sie bekommen können. Hier wäre also der Synergie-Effekt am Stärksten.

      Zu 2. Jo, da stellt sie sich in eine Reihe mit Grünen und FDP. Und ich habe das ja in einem Absatz untergebracht: es muss eine Aufarbeitung geben (übrigens nicht nur für potentielle neue Parteimitglieder, sondern auch für die Wähler_innen), die transparent macht, was man in Zukunft vorgehen will. Siehe also oben.

  2. Rudi sagt:

    Boa,…

    Danke für den Vorschlag. Ich finde es gut daß Menschen aus beiden Parteien kooperieren, um Themen voranzubringen oder auch um ihnen zu Mehrheiten zu verhelfen. Ob jetzt bei Euch in Berlin oder bei mir in der westdeutschen Pampa.

    Aber „demokratisch-sozialistische Gesellschaft” als Ziel ? so wie in http://www.die-linke.de/partei/dokumente/programm-der-partei-die-linke/iii-demokratischer-sozialismus-im-21-jahrhundert/ ?
    Das ist mir ein wenig viel „too much“.
    Da helfe ich lieber weiter bei Auf- und Ausbau eines „demokratischen Rechtsstaates und einer modernen freiheitlichen Gesellschaftsordnung geprägt vom Geiste sozialer Gerechtigkeit.“ – und das unter den Bedingungen des Informationszeitalters.

  3. Smellcaster sagt:

    Ahja, eine Gegenbewegung zu jeder rechten Einflussnahme. Wurden wir deshalb zertrollt ? wegen unseres rechten Flügels ? weil wir einfach nicht auf Antifa-Linie gebracht werden konnten ? Schon erstaunlich wer auf einmal woanders politisch tätig wird nachdem er/sie bei uns eher durch Genderpopender und Antifaaktionismus aufgefallen ist. Ja, ich gehöre zum rechten Flügel und ich habe so einige engagierte Piraten gehen sehen weil sie ausgebrannt waren. Es wird wohl noch etwas dauern bis ich mich an euren Umgang mit politischen Gegnern gewöhnt habe. Ihr stemmt jetzt also die digitale Revolution ? Die Ideen hören sich ja teilweise gar nicht so schlecht an und würden mich ja auch interessieren. Leider fehlt mir nach all dem Blödsinn den ich 2014 erlebt habe das Vertrauen. Da ich mit politisch links nicht viel anfangen kann würdet ihr mich wahrscheinlich bis aufs Blut bekämpfen. Als Pirat weiss ich auch das irgendein aufgeschriebener Kodex nicht dazu führt das er auch eingehalten wird. Ich werde wohl erstmal Pirat bleiben und sehen ob wir die Lage wieder in den Griff bekommen. Es tut weh zu sehen das wir wirklich jeden Scheissfehler wieder gemacht haben den andere schon vor uns gemacht haben.

    Was würde wohl passieren wenn [Name entfernt] sein Stück Stoff bei einem Parteitag der Linken an prominenter Stelle aufhängt und demjenigen den es entfernen will mit körperlicher Gewalt droht ?

    Naja, sind ja jetzt alte Kamellen. Ihr habt eure Ziele erreicht, wir sind erstmal aus dem Weg. Viel Spaß noch mit den Anzugträgern für Deutschland.

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