CC BY 2.0 - by n74jrw (https://www.flickr.com/photos/n74jrw/2696782803)

CC BY 2.0 – by n74jrw (https://www.flickr.com/photos/n74jrw/2696782803)

 

Ich habe vor den meisten meiner Bekannten angefangen, mich mit Twitter zu beschäftigen. Zum Jahresanfang 2009 habe ich meinen ersten Tweet geschrieben. Über 5 Jahre meines Lebens sind in 140-Zeichen-Texten dokumentiert, so ich nicht einzelne Tweets aus guten oder weniger guten Gründen gelöscht habe oder den Account zu bestimmten Zeiten in meinem Leben als „geschütztes“ Profil betrieben habe, zu dem nur einige ausgewählte Personen Zugriff hatten.

Man merkt deutlich: das deutsche Twitter und das amerikanische oder weltweite unterscheiden sich enorm. Im deutschsprachigen Raum sind sehr viele Accounts in irgendeiner Form in die Parteipolitik der Piraten eingebunden, die aktiven Nutzer_innen mit Piratenpartei-Hintergrund sind so präsent dabei, dass selbst Accounts von politischen Organisationen im direkten Gespräch im Dunstkreis der Piraten landen. Das kann nett sein, denn die Partei ist sehr heterogen und von Aktivist_innen verschiedenster sozialer Bewegungen betrieben. Aber im letzten Jahr wurde das Klima immer rauer, zusammen mit dem Rechtsruck der Piraten. Selbst die Filtereinstellungen halfen nicht, sich dem zu entziehen, wenn man – wie ich – auch ein politisches oder berufliches Interesse an der Partei hatte, war man da voll mit drin. Abstrakte politische Diskussionen wurden schnell persönlich, in diesen Kreisen endet vieles beim Anwalt oder vor dem Gericht.

Die Default-Einstellung von Twitter ist der öffentliche Tweet. Wenn man seinen Account nicht auf geschützt gestellt hat, werden alle Nachrichten, die man so raussendet, öffentlich abrufbar, z.B. über Suchmaschinen wie Google & Co., die darauf verweisen. Im Optimalfall weiß man das, wenn man sich anmeldet und hat das im Hinterkopf. Aber auch wenn nicht, ist das eigentlich nicht schlimm. Diese Öffentlichkeit hat viele interessante Vorteile: anstatt in einer geschlossenen Gruppe mich zu einem Thema zu äußern und erwartungsgemäße Rückmeldungen zurückbekomme, wird durch einen Kommentar in der Öffentlichkeit dieser auch einem gesamten Diskurs zugänglich, kann durch öffentliche Antworten auf die Probe gestellt oder durch bisher unbekannte Menschen ergänzt werden. Dadurch findet man Zugang zu Menschen, die ähnliche Interessenlagen haben, aber nicht unbedingt den sozialen Auswahlkriterien eines Freundeskreises entsprechen würden. Man findet schnelle Hilfe durch eine Community, findet eine Menge an (z.B. verlinkten) Informationen zu aktuellen Themen. Man kann auch über z.B. die Form des „Tickerns“, also der Liveberichterstattung eines Events, durch die Öffentlichkeit Informationen an eine unbestimmte Anzahl an Menschen vermitteln, die aus vielen getickterten Nachrichten z.B. darüber entscheiden, wie sie sich auf Demonstrationen oder Blockaden verhalten. Öffentlichkeit ist eine tolle Sache, wenn sie ohne Angst und in Freiheit ausgeübt werden kann.

In den letzten Stunden verbreitete sich die Nachricht, dass ein Mitglied der Piraten unter der Flagge einer Parteistruktur (der „Zuse-Crew“) systematisch Twitter-Accounts erfässt und eine Text- und Screenshot-Datenbank anlegt. Dabei speichert er einerseits Tweets von Accounts, die sich zu bestimmten Themen äußern (z.B. Antifa oder innere Debatten der Piraten), andererseits erfasst er als „targets“ markierte Accounts im Volltext und speichert jeden (!) ihrer Tweets ab. Wer mit diesen targeted accounts Kontakt hat, wird schnell selber zum Ziel. Es wird sich dabei nicht auf eine innerparteiliche Datenbank beschränkt, sondern auch Innenpolitiker anderer Parteien und Journalist_innen der jungle world und der Frankfurter Rundschau werden als targeted accounts komplett erfasst. Wer sich auf Twitter antifaschistisch und antirassistisch äußert, wird  Ziel dieser gezielten Überwachung, jede öffentliche Äußerung wird zu Zwecken der „Gerichtsverwertbarkeit“ aufgezeichnet, auch wenn man sie einige Minuten später wieder löscht oder seinen Account auf „Geschützt“ stellt.

Aus dem massenhaften Scannen wird also per Wortfilter und markierten Personen eine Zieldatenbank erstellt, um aus dem Big-Data-Wust die für den rechten Piraten relevanten Tweets herauszufiltern und sie zur Weiterverwendung durch andere Organisationen und Personen, die ein Interesse an antifaschistisch aktiven Personen haben, zur Verfügung zu stellen. Klingt nach dem Vorgehen der NSA. Nicht nur so unterscheidet sich diese Datenbank massiv von Indexierungen durch andere Suchmaschinen: sie ist gerade darauf ausgelegt, auch durch den Nutzer gelöschte Inhalte weiterhin verfügbar zu halten; auch ein nachträgliches „Schützen“ des Accounts hilft nicht. Indexes wie Google reinigen in regelmäßigen Abständen ihre Datenbank von gelöschten oder geschützten Tweets; hier ist das schon per Definition nicht vorgesehen. Ob das rechtlich zulässig ist, wird sich zeigen.

Mein Twitter-Account steht auch auf dieser Liste. Bisher bin ich davon ausgegangen, dass ich – wenn ich z.B. merke, dass ich mit einer Äußerung unsicher fühle – selbst kontrollieren kann, wie lange sie der Öffentlichkeit zur Verfügung steht. Wenn ich ein Problem mit Indexierung durch große Firmen habe, kann ich den Klageweg beschreiten, sollten Anfragen auf Löschung nicht weiterhelfen. Diese Kontrolle wird mir genommen, von jemanden, der mich als politischen Feind sieht, auf seiner Feindesliste einsortiert und darüber schwadroniert, dass er bei diesen Feinden die Köpfe aufgespießt sehen will. Klageweg bringt nicht viel, da der Mensch schon in Grund und Boden geklagt wurde. Anonymisierungsversuche helfen nur bedingt, da nach eigener Aussage des Betreibers soziale Profile erstellt werden sollen und die Verknüpfungen der Accounts untereinander analysiert werden sollen. Das kann auch Erfolg haben. Hinzu kommt ein soziales Umfeld in der Zusecrew, dass linke Aktivist_innen auf Demonstrationen per Gesichtserkennungssoftware selber scannen will. Eine Anti-Antifa ohne feste Ideologie, aber „mit Spaß am Gerät“, sozusagen.

Ich habe inzwischen Angst. So viel, dass ich vor jedem Tweet überlege, ob ich das jetzt schreibe oder ob mir das in irgendeiner Situation meines Lebens auf die Füße fallen könnte. Wenn ich Menschen folgen will, überlege ich vorher, ob sie auch in dieser Liste landen können und ob es ihnen schadet. Ob es Klagen gleich hagelt, oder ob sich Neonazis an diese Suchmaschine setzen und versuchen, anhand inzwischen gelöschter Informationen mich und mein Umfeld zu bedrohen. Und wenn ich Angst habe, nicht nur um mich, sondern auch um zufällige Menschen, die Kontakt mit mir haben; dann habe keine Kontrolle mehr und traue mich nicht mehr, Dinge so zu sagen, wie ich sie sagen will und vielleicht auch muss. Was die NSA in ihrer Abstraktheit nicht schafft, schafft ein einzelner Pirat in der Konkretheit seines Hasses.

Deswegen werde ich meinen deutschsprachigen Twitter-Account am Sonntag, 13.7.2014, abstellen.

Es waren schöne fünf Jahre, und ich freue mich über die knapp 600 Menschen, die an meinen Nachrichten Interesse hatten und vielen Dank an die wunderbaren Kommentare, Streits, an die wertvollen Hinweise. Und natürlich an all jene, die jeden Tag meine Timeline mit interessanten oder kurzweiligen Dingen gefüllt haben. In so einer Situation und in so einer Atmosphäre bleibt nur, sich zurückzuziehen. Auf Facebook. Oder in das gute alte IRC. Oder halt Jabber. Die geschlossenen Threema-Gruppen. Vielleicht werde ich etwas mehr bloggen. Vielleicht probiere ich auch Diaspora nochmal aus, oder Twister. Vielleicht habt ihr auch noch Empfehlungen für geschützte Kanäle, wo man wieder mehr Gefühl der Kontrolle hat. Ich freue mich auf eure Nachrichten, Freundes- oder Jabberanfragen. We should stay in contact and organize!

Jabber: [email protected]
Mailmeetinmontauk – ## ät ## – die-genossen.de

 

2 Responses to Bye, bye (deutsches) Twitter!

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