Meet In Montauk » Politik https://www.meetinmontauk.de Anarchismus. Diesmal wirklich. Thu, 30 Jan 2014 13:30:25 +0000 de-DE hourly 1 http://wordpress.org/?v=3.8.1 Literaturkreis: Kritische Theorie, Individuum und Gesellschaft https://www.meetinmontauk.de/2014/01/literaturkreis-kritische-theorie-individuum-und-gesellschaft/ https://www.meetinmontauk.de/2014/01/literaturkreis-kritische-theorie-individuum-und-gesellschaft/#comments Thu, 30 Jan 2014 13:30:25 +0000 https://www.meetinmontauk.de/?p=835 Wir sind umgeben von Machtverhältnissen, die uns in Beziehung zueinander setzen und unsere Positionen in der Gesellschaft definieren: werden wir als Männer oder Frauen wahrgenommen, als heteronormativ oder mit anderen sexuellen und amourösen Präferenzen, als weiße Deutsche oder als person of color. Oft erkennen wir das, versuchen uns gegen diese Machtverhältnisse zu positionieren und haben [...]]]> April 1964 by Jeremy J. Shapiro // CC-BY-SA-3.0

April 1964 by Jeremy J. Shapiro // CC-BY-SA-3.0

Wir sind umgeben von Machtverhältnissen, die uns in Beziehung zueinander setzen und unsere Positionen in der Gesellschaft definieren: werden wir als Männer oder Frauen wahrgenommen, als heteronormativ oder mit anderen sexuellen und amourösen Präferenzen, als weiße Deutsche oder als person of color. Oft erkennen wir das, versuchen uns gegen diese Machtverhältnisse zu positionieren und haben individuelle Re-Positionierungen, um innerhalb einer Welt, die uns oft zum Verzweifeln bringt, unseren Platz zu finden.

Dabei sind wir enorm abhängig davon, was dieses “Ich” in der Gesellschaft, und die Gesellschaft an sich überhaupt bedeutet.  Einige Vertreter der Kritischen Theorie haben ein mal mehr, mal weniger entmutigendes Bild darüber gezeichnet, wo das Individuum in einer Gesellschaft scheinbar ohne immanente Widersprüche steht und welche Handlungsmöglichkeiten für die einzelnen oder organisierten Menschen bestehen, den Weg in eine befreite Gesellschaft zu bereiten. 

Bei vielen Menschen ist es bereits eine Unverschämtheit, wenn sie Ich sagen. - Adorno, Minima Moralia, S. 55

Der Literaturkreis soll über ein Jahr sich mit den wichtigsten Werken der Kritischen Theorie in Bezug auf das Thema “Individuum und Gesellschaft” beschäftigen. Der Literaturkreis soll offen gestaltet werden. Menschen, die sich schon mit den Themen beschäftigt haben mögen ihr Wissen an Einsteiger_innen vermitteln und sich an der kritisch-reflexiven Diskussion bereichern.

Wenn ihr Lust habt, euch zusammen mit anderen Menschen und in lebhaften Diskussion mit der Literatur zu beschäftigen, schreibt mir doch eine Mail an meetinmontauk – ## ät ## – die-genossen.de – dann bekommt ihr eine Einladung mit verbindlichem Ort zur Einführungsveranstaltung. Kosten fallen keine an, Literatur sollte es an den entsprechenden Bibliotheken geben.

Das ist kein Universitätskurs. Man bekommt hier keine Creditpoints. Das ist der Versuch einer unabhängigen Organisierung von interessierten Einzelpersonen.

Einführungsveranstaltung:
Datum: 14. Februar 2014
Zeit: 17:00 Uhr
Ort: Berlin-Friedrichshain (tba)

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#30C3: Der Chaos Computer Club zwischen Rape Culture, Hero Culture und Staatsräson https://www.meetinmontauk.de/2013/12/30c3-der-chaos-computer-club-zwischen-rape-culture-hero-culture-und-staatsrason/ https://www.meetinmontauk.de/2013/12/30c3-der-chaos-computer-club-zwischen-rape-culture-hero-culture-und-staatsrason/#comments Sun, 08 Dec 2013 11:44:03 +0000 https://www.meetinmontauk.de/?p=819 Nachdem der Chaos Communication Congress schon in den letzten Jahren immer wieder in feministischer und anti-sexistischer Kritik stand, entzündet sich am 30C3 der Konflikt schon durch die Auswahl von Julian Assange als Speaker im Vorfeld. Zusammen mit Jacob Applebaum wird Julian Assange über eine Liveschaltung auf dem Kongress einen Vortrag halten. Einen unter [...]]]>

30C3 Artwork by Evelyn Schubert is licensed under a Creative Commons Attribution-ShareAlike 3.0 Unported License. Based on a work at http://evelynschubert.com/30C3/wallpaper/.

Nachdem der Chaos Communication Congress schon in den letzten Jahren immer wieder in feministischer und anti-sexistischer Kritik stand, entzündet sich am 30C3 der Konflikt schon durch die Auswahl von Julian Assange als Speaker im Vorfeld. Zusammen mit Jacob Applebaum wird Julian Assange über eine Liveschaltung auf dem Kongress einen Vortrag halten. Einen unter vielen, als ein Vortragender unter vielen. Mit exponierterer, aber nicht zentraler Position. Die Debatte darum, ob man mit Assange einem Vergewaltiger die Bühne geben dürfe, wird dabei in aller Härte und mit festgefahrenen Fronten geführt. Dabei wurde eine feministische Perspektive schon ausreichend, zum Teil unter expliziter Aufarbeitung der Vergewaltigungshandlungen durch Assange, erläutert. Assange als Speaker auf die Bühne zu schalten ist ein Affront gegen feministische und kritische Teilnehmer_innen, es ist eine klare Positionierung in dem Diskurs um sexistische Hegemonie auf dem Kongress (nämlich eine, die diese Hegemonie stützt) und damit ist der Vortragende unter den Vortragenden ein Politikum.

Schon unter diesen Gesichtspunkten ist klar, wie tief und erbittert der Diskurs geführt wird – und wie weit er symbolhaft für eine Fragmentierung und Ausdifferenzierung einer Hacker_innen-Bewegung mit emanzipatorischem Anspruch ist. Gleichzeitig kratzt es nur an der Oberfläche eines viel tiefgreifenderen Diskurses, der aber aufzeigt, dass die Speakerposition von Assange nur logische Folge einer Bewegungsausrichtung ist, die bisher weitestgehend kritiklos im Raum stand.

Cui Bono?

Die Kritik an Assange lässt in meinen Augen aber auch eine wichtige, sehr grundsätzlich Frage vermissen: cui bono? Auffällig ist nämlich, dass Assange nicht eine spannenden Vortrag über “The Rise And Fall Of Wikileaks” hält, oder ähnlich szeneimmanente bedeutende Vorträge. Sein Vortrag heißt schlicht: “Sysadmins of the world, unite!“, die Ankünding verliert sich in Allgemeinplätzen wie “We must realize the power and responsibility we hold for the great structural problems of our time.” – ahja. Und das ist ein Punkt, der besonders schmerzt. In der Abwägung zwischen “Assanges Auftritt verletzt Menschen und führt dazu, dass sie nicht am Kongress teilnehmen” und “Da ist eine große öffentliche Bedeutung in seinem Vortrag” scheint man nach sehr seltsamen Kriterien vorzugehen, weil das Vortragsthema ein beliebiges und zahnloses ist.

Die Bühne, die man Assange gegeben hat, leidet enorm unter der Belanglosigkeit der lecture. Wo viele Menschen sicher weniger Bauchschmerzen haben würden, wäre eine kritische Auseinandersetzung damit, was Wikileaks und der kleine, elitäre Kreis darum eigentlich ist, und mit welcher Legitimation und Unterstützung sie so handeln, wie sie es tun. Die Frage danach, warum die USA als Primärziel im Raum stehen, der globale Norden als Sekundärziel und autoritäre Regierungen als Verbündete von Wikileaks gefeiert werden? Warum man Verschwörungstheoretiker_innen diese Macht gibt? Ein Podium darüber, welche grundsätzliche Bedeutung Wikileaks hatte, und gleichzeitig, wo sie grundsätzlich gescheitert sind. Ein Podium darüber, warum die Organisationsstruktur sich für die politische Rechtfertigung von Assange, sich den Vergewaltigungsvorwürfen zu entziehen, benutzen lässt, und Kritiker_innen oder als “Verräter_innen” abgestempelte Menschen öffentlich (über Twitter & Co.) angreift. Warum Wikileaks, statt an der globalen politischen Bedeutung zu wachsen, eine starke und selbstbewusste Hacker_innen-Bewegung auf lange Zeit nachhaltig beschädigt hat. Hätte sich Assange so einem Podium stellen müssen, wäre die Bereitschaft sicherlich größer gewesen, ihm diesen hinterfragenden Platz einzuräumen.

Was aber bei vielen die bohrende Frage ist: warum gibt man dem Vergewaltiger Assange ein Podium – und dann noch für belanglosen Nonsens? Durch diese krampfhafte Banalität wird der Eindruck erweckt, Assange wäre ein normaler Teil einer Community, die mit sich selbst im Reinen ist. Die forcierte subkulturelle, aber nichtsdestotrotz gesellschaftlich relevante Rehabilitation ist ein Ausdruck der “Rape Culture”. Die Bestätigung des eingereichten Vortrages scheint eine in Kauf genommenen Eskalation zu sein, die im Vorfeld auch schon die Spreu vom Weizen trennt: wer wegen Assange keinen Bock mehr auf den Kongress hat, wird auch nicht da sein, um das allgemeine antifeministische und antiemanzipatorische Grundrauschen zu kritisieren. Die Normalisierung und Normierung des Kongresses über einen Proxykonflikt. Darauf einzusteigen ist verständlich, muss aber differenziert reflektiert werden: möchte man noch Richtungsänderungen erreichen oder nur die Beans skandalisieren? Darum sollte auch in einer feministisch-solidarischen Strömung thematisiert werden, warum hier gerade nur Assange Thema ist, oder ob man die Kritik nicht breiter fassen sollte.

Hero Culture

Die öffentliche Reaktion des CCC-Spitzenpersonal ist Abschottung. Anstatt sich dem Diskurs zu stellen, wird Assange banal als “hero” verklärt. Ein bisschen, wie man als 15-jährigens Kid sich nicht den linken “Helden” Che Guevara durch die Debatte um seine Kriegsverbrechen, zu denen auch Vergewaltigungen gehörten, kaputt machen lassen wollte. Aus Trotz hat man das T-Shirt auch zur nächsten Demo angezogen, bevor man drüber nachgedacht hat. Aber hier sind erwachsene Leute am Werk, die gesellschaftliche Rahmenbedingungen mitbestimmen. Wenn die solche Trotzreaktionen bringen, dann ist das nicht entschuldbar, sondern einfach nur gefährlich. Einen Personenkult um Menschen zu fahren, die Vertreter_innen ihrer Strukturen im Rampenlicht waren, verschließt den Blick auf Diskursgegenstände, die wir uns dringend vornehmen müssen, nämlich eine strukturorientierte netzrevoltierende Arbeit.

Und eigentlich war der CCC da lange für mich ein Vorbild. Es gibt zwar Führungspersonal, aber die Hierarchien stellten sich nach Außen deutlich flacher als in anderen gesellschaftlichen Kontexten dar. Mit Kurz, Rieger und – als Shooting Star – Fefe gibt es zwar eine kontiniuierliche Vermittlungsschicht, aber sie werden flankiert von Expert_innen in den jeweiligen Unterthemen, denen bereitwillig auch der Platz und das Podium zum Reden gegeben wird. Und warum sollten wir Kurz und Rieger als Held_innen bezeichen? Wenn wir anfangen, uns unsere “hero”-Kultur jetzt selbst zu stricken, machen wir Identifikationspotential an Personen fest und nicht an politischen und gesellschaftlichen Ideen. Eine Bewegung, die sich auf Ideal-Identifikation anstatt auf identitärem Gestus beruft, ist eine nachhaltigere, weil mit den personellen Brüchen nicht gleich der gesellschaftliche Drive verlorengeht – und man sich nebenbei nicht in der Zwickmühle befindet, einen Vergewaltiger für seine gesellschaftliche Leistung zu loben.

Aber dann bleibt noch die Frage, warum eine Organisation einer emanzipatorischen und gesellschaftskritischen Veranstaltung überhaupt jemanden wie Assange die Bühne gibt. Die Antwort ist einfach: der 30C3 ist keine emanzipatorische Veranstaltung, genauso wie die geselllschaftskritische Komponente eine staatstragende, reformistische ist. Der ehrwürdige Chor, der “Zensur! Meinungsfreiheit! Rechtsstaat!” singt, hat da seine Jahreshauptversammlung. Assange ist die Garantie dafür, dass der Kongress in den Medien landet und einen gesamtgesellschaftlich bekannten Namen präsentieren kann. Er ist nur die logische Konsequenz dessen, was der Chaos Computer Club seit Jahren als Strategie verfolgt.

Säulen des gesellschaftlichen Einflusses

Wenn man sich die strategische Positionierung des CCC anschaut, dann sieht man eine Strategie des “Maximal Impact” auf drei Säulen. Die erste Säule ist: das Bundesverfassungsgericht. Unter dem höchsten juristischen Korrektiv geht nichts mehr. Um abseits vom Parlamentarismus einen tiefgreifenden gesellschaftlichen Einfluss zu haben, sucht man den Schulterschluss mit der Judikative, und gibt sich bereitwillig als Sachverständige her. Anders als in den Anhörungen des Bundestages erlangt der Club hier auch seine Bestätigung und stilisiert in Folge aus Dankbarkeit dafür, dass ihnen mal jemand zuhört, das Bundesverfassungsgericht als das letzte demokratische Bollwerk der Bundesrepublik hoch. Für das demokratische Verständnis, dass durch den Club an die Fanbase vermittelt wird, übrigens ein totales Problem, ist es doch ein Schulterschluss zwischen acht juristischen Granden und der Expertise der Sachverständigen – ein Hoch auf eine technokratische Gesellschaft, ne?

Die zweite Säule ist die FAZ. Die enge Verbindung zwischen Rieger, Fefe und Schirrmacher ist offen einsehbar, die Medienarbeit und die großen Würfe fanden über diese auflagenstarke Publikation statt. Die FAZ ist ohne Zweifel das Blatt, dass von den Entscheider_innen der Nation am ehsten gelesen wird, der CCC erreicht damit die gesellschaftliche Führungsriege. Anstatt die eigene Avantgarde über die ihnen eigenen Kanäle zu bestätigen, werden die großen Skandale in das Herz der Bestie getragen. Eigentlich ein lobenswerter Gedanke, er reiht sich aber ein in eine Strategie der maximalen gesellschaftlichen Wirkung.

Die dritte Säule ist der geöffnete Kongress. Es war in den letzten Jahren absehbar, dass der Kongress keine Szene-Veranstaltung mehr ist, sondern eine breite Resonanz erfährt – sehr gut spiegelte sich das an den schnell ausgebuchten Tickets wieder. Der “Fusion”-Effekt – der Ausverkauf nach wenigen Sekunden – führte zu dem Richtungsentscheid, dem Kongress mehr Raum zu geben oder ihn zu regulieren (z.B. eine “member and a friend”-policy).  Man entschied sich durch den Umzug nach Hamburg für die Öffnung. Mehr Platz, keine Besucher_innen-Begrenzung mehr. Die ganzen Regierungsvertreter_innen, Lobbyist_innen und Konzernstrateg_innen konnten wieder rein, trugen nicht wenig zur Refinanzierung bei und transportierten die Ideen der Avantgarde in die Institutionen, in den Gesellschaft produziert wird. Maximaler und kurzfristiger gesellschaftlicher Einfluss wird auch durch den Kongress bestimmt. Und damit die dritte Säule auch ihren Status in der zunehmenden Konkurrenzssituation (re.publica? OHM? etc.) hält, braucht man halt die großen Namen. Mit Assange bestätigt man gegenüber denjeniegen, die als Vermittler_innen zwischen Avantgarde und Institutionen dienen, den Führungsanspruch als wichtigste und einflussreichste Hacker_innen-Konferenz in Deutschland und Europa.

… und nun?

Das ist die Debatte, der sich eine Hacker_innen- und Netzbewegung mit emanzipatorischem Anspruch stellen muss. Wollen wir, dass wir nur technokratische Stichwortgeber_innen im gesellschaftlichen Diskurs sind, oder sollten wir nicht lieber daran arbeiten, dass wir eine kohärente und nachhaltige gesellschaftliche Alternative unter Ausnutzung technischer Errungenschaften (und unter Kritik derselben) erschaffen? Die Politik des CCC formuliert in den allerseltensten Fällen die Kritik am bürgerlichen Staat an sich, vielmehr ist der reformistiche Charakter einer, der nachhaltig die Herrschaftsformen der bürgerlichen Gesellschaft stützt. Schon die Analysekategorie scheint überhaupt nicht präsent zu sein. Für mein Verständnis wäre es nachhaltiger, sich tatsächlich kreierend betätigen, anstatt reformistisch die bürgerliche Gesellschaft für ein angenehmeres Klima zu bearbeiten.

Was hat das noch mit Assange zu tun? Assange ist nur das Symbol, an dem diese Richtungsentscheidung der Bewegung sich messen lassen muss. Wikileaks ist das perfekte Beispiel, wie es nicht laufen kann in einer emanzipativen Bewegung (auch, aber nicht ausschließlich, weil ein Vergewaltiger als Held mit dunklen Seiten gefeiert wird), wie sich kein gleichberechtiges Organisationsmodell mit globaler Adaptivität entwickeln lassen kann. Und Assange zeigt, dass wir uns um diesen Konflikt weitgehend drücken und einer Strömung in der Bewegung die Deutungshoheit darüber überlassen, was dem Weg zum gesellschaftlichen Einfluss nützt und was nur davon ablenken würde. Wir sind hier in einer – nicht ausgesprochenen – Debatte um den Haupt- und Nebenkonflikt.

Der erste Schritt – und hier ist noch Zeit zum Korrektiv  – muss sein, sich dieser Debatte zu stellen. Konkret an Wikileaks, Konkret an der Richtungsentscheidung des CCC und abstrakt an der Vorstellung, was wir als Bewegung und als Aktivist_innen eigentlich wollen. Dieser erste Schritt eröffnet den Diskurs und schafft den Raum. Und diesen Raum, den müssen wir uns nehmen.

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Nach dem Kater ist vor dem Vodka ist vor dem Kater – Ansichten zum Bundesparteitag 13.2 der Piraten https://www.meetinmontauk.de/2013/12/nach-dem-kater-ist-vor-dem-vodka-ist-vor-dem-kater-ansichten-zum-bundesparteitag-13-2-der-piraten/ https://www.meetinmontauk.de/2013/12/nach-dem-kater-ist-vor-dem-vodka-ist-vor-dem-kater-ansichten-zum-bundesparteitag-13-2-der-piraten/#comments Mon, 02 Dec 2013 12:34:13 +0000 https://www.meetinmontauk.de/?p=815 Klirrende Kälte empfängt einen frühmorgens um 8 Uhr an einem Sonntag in Berlin im Dezember. Der erste Advent legt sich noch als schläferige Kollektivverweigerung über die Stadt. Der Hund streckt sich und gähnt, als ich die Tür zur Geschäftsstelle in der Pflugstraße öffne.

Ich bin kein Mitglied der Piraten. Jedenfalls nicht dass ich es wüsste, ich bekomme [...]]]> Klirrende Kälte empfängt einen frühmorgens um 8 Uhr an einem Sonntag in Berlin im Dezember. Der erste Advent legt sich noch als schläferige Kollektivverweigerung über die Stadt. Der Hund streckt sich und gähnt, als ich die Tür zur Geschäftsstelle in der Pflugstraße öffne.

Ich bin kein Mitglied der Piraten. Jedenfalls nicht dass ich es wüsste, ich bekomme trotzdem immer Zahlungsaufforderungen per Mail. Verwirrend. Ich war es aber mal, vor langer Zeit, in Brandenburg. Idealismus, Vertrauen in die Parteiendemokratie, Jugendlichkeit, Netzszene. Der Umzug nach Berlin, bunte politische Biografie, die ich irgendwann mal in all ihren Widersprüchen zusammenfassen sollte, damit Menschen mich verstehen. Ich habe glaube ich schon mal bei allem links der CDU reingeschaut und mich drüber aufgeregt.

Mein Blick ist irgendwo zwischen interner Beobachter und externer Fan. Meine tieferen Einsichten beschränken sich auf die Berliner Ebene und auf Sachen, die tagtäglich durch meine Twitter-Timeline rollen. Ich arbeite nahe an den Piraten, aber nicht in der Partei.

Deswegen war ich am Wochenende auch in Berlin und nicht in Bremen. Trotzdem, ich wollte – auch um meinen Job vernünftig zu machen – mir den Parteitag aus sicherer Entfernung anschauen. Zusammen mit Gero habe ich mich darum gekümmert, dass Interessierte sich gemeinsam den Stream anschauen konnten - eine sehr angenehme Sache, das Angebot haben dann auch einige Personen wahrgenommen.

Ausgestattet mit viel Essen und noch mehr Getränken, Beamer und einem Livekommentar von Gero, der mir das Who-ist-Who der Partei erklärte, verfolgten wir also seit Samstag den Bundesparteitag.

Chaos – im Guten wie im Schlechten

Die Vorstellung praktischer direkter Demokratie ist immer noch bestechend. Jeder kann einfach zum Bundesparteitag fahren und mitbestimmen. Direkte Demokratie, keine Machtriege, der Schwarm, geil! Die Ernüchterung verbleibt, wenn man sieht, welche chaotischen Zustände das mitunter auslöst. Fast alle Zeitungen berichten spöttisch über Geschäftsordnungs- und Tagesordnungsschlachten, die die Versammlung bestimmten. Was vor einigen Jahren sympathisch war – und auch heute noch sein kann – kann einer Partei, die sich in einem gefühlten Allzeittief befindet, das Genick brechen.

So verblieb auch der Eindruck: die Leitung der Versammlung schwankte zwischen Professionalität und dem verzweifelten Versuch, Produktivität aus dem Parteitag herauszukitzeln – rechtlich nicht immer einwandfrei. Zumindest blieben Fragen offen. Chaos mit Chaos zu beantworten verschenkte hier Potential. Man kann der Versammlungsleitung zu Gute halten, dass sie es zumindest geschafft hat, den Vorstand einigermaßen zu besetzen – was den Anwesenden aber zu denken geben sollte. Die verwirrenden und schlecht vorbereiteten Wahlverfahrensversuche trugen nur zur Verschlimmerung der Situation bei.

Zwischen Professionalisierung und Dilettantismus glitzerten immer wieder einzelne Punkte hervor. Beispielhaft, an dem Punkt, wo durch eine schlechte Übersetzung die Rede der schwedischen Piraten-Vertreterin zu einer Farce verkam. Dabei war es respektabel, dass sich jemand darum kümmern wollte, und das Engagment ist der Person anzurechnen.  Aber warum gibt es für diesen geplanten Auftritt keine Vorbereitung? Das Redemanuskript lag ja anscheinend vor.

In dem Ablauf merkt man auch, wie sich bestimmte Prozesse aus dem Netz in den zeitlich und räumlich eng abgegrenzten Raum des Parteitages übertragen: die Empörungskultur, die den kurzen Kick des „Ich-hab-auch-mal-was-zu-sagen“ über den Erfolg einer konstanten und tiefen Debatte stellt, ist davon wohl das Unangenehmste.  Dieser Debattenform sollte in Zukunft intensiv entgegengewirkt werden.

Tagesordnung from Hell

Im Vorfeld zum Parteitag gab es einige Punkte, die einer Debatte auf dem Parteitag bedurften. Dazu zählten:

  • Innerparteiliche Quotenregelungen
  • Die Europa-Wahl und die Vorschläge zu einem Europawahlprogramm
  • Innerparteiliche Willensbildungsprozesse

Diese drei – sicherlich sehr subjektiven Punkte – hätten, wäre es zu einer ordentlichen Debatte gekommen, ein Befreiungsschlag für die zerstrittenen Gruppen in der Partei sein können. Der Befreiungsschlag blieb aus.

Die Ausgestaltung als Wahl-Parteitag führte dazu, dass – immer wieder mit der Begründung, die Partei bräuchte populäre Köpfe, die Programmpunkte vermittelten – sich nur auf die Vorstandswahlen konzentriert wurde. Dabei war im Vorfeld absehbar, dass diese populären Köpfe gar nicht erst zur Wahl antreten würden. Die Konzentration darauf mag auf einer richtigen Fehleranalyse beruhen, sie hat aber auf diesem Parteitag keinen Mehrwert in Form einer stabilen und kraftvollen Umstruktierung des Vorstandes gebracht. Die Menschen, die jetzt an der Spitze der Partei stehen, müssen sich selbst erst einmal aufbauen und auf der Bundesebene positionieren. Kein leichter Job, zumal mit der Entscheidung, das Führungspersonal der Partei weiterhin nicht zu bezahlen – außer dort, wo ansonsten die Person auf Sozialleistungen angewiesen wäre – auch für die Zukunft keine Perspektiven professioneller dauerhafter Arbeit jenseits von Burn-Out eröffnet und populäre Vertreter_innen der Partei mit ihrem Bedürfnis nach gerechter Bezahlung alleine lässt. “Mit dem BGE wäre das alles besser”, bekommt man da zu hören. Stimmt. Aber auch im Kommunismus wäre alles besser. Und wir haben weder BGE noch Kommunismus, so deal with it.

Einer der wenigen Lichtblicke der Veranstaltung war im Übrigen die Reaktion auf den “In der Partei herrscht KRÖÖÖÖG!”-Kandidaten, der verdientermaßen ein Meer von “Zeige Respekt”-Karten für seine NPD-Parteitagsrede bekommen hat. Das hat mir gezeigt, dass die Partei Selbstreinigungskräfte hat und zu klaren Bekenntnissen fähig ist – die müssen nur stärker nach Außen vertreten werden.

Ein Europa der Quoten

Die im Vorfeld heiß geführte Quotendebatte ist aus meiner Perspektive ein Symptom einer intensiv geführten Diskussion zwischen einem links-emanzipatorischem Teil der Piraten und einem bürgerlich-liberalen. Ich habe schon früher darauf verwiesen, dass ich einen sehr linken Kurs für diese Partei für einen guten und richtigen Kurs halte, deswegen wird meine Analyse nicht sehr überraschen: mit der Vertagung der Debatte um die Symptome wurde gleichzeitig auch der Diskurs um die grundsätzliche Ausrichtung der Partei vertagt, und auch darüber, wie man die Gruppen untereinander versöhnen und zur Zusammenarbeit bringen kann. Das wird – und das ist den Piraten zu Gute zu halten – gerade nicht über einen Vorstand passieren, sondern nur über die knallharte inhaltliche Debatte und über die Abstimmung durch die Basis. Aber diese Chance wurde ungenutzt gelassen. Dass der Vorstand zur Hälfte mit Frauen besetzt ist, feiern  die Quoten-Gegner_innen als Bestätigung ihrer Position.  Ausgeblendet wird, dass sowohl die Posten des Vorsitzenden und des Politischem Geschäftsführers weiterhin von Männern besetzt werden. Männer dominieren also die Spitzenpositionen der Piraten. Das wird konsequenterweise dann auch von Außen so wahrgenommen.  Teil des Problemes, für das Quoten eine Lösung bringen können, sind fehlende weibliche Kandidaturen. Die Orientierung an anderen Parteien, die mit Quoten und Doppelspitzen Werkzeuge einer emanzipatorischen Parteiführung entwickelt haben, blieb aus. Dabei können gerade Doppelspitzen auch eine Politik der Einigung zwischen parteiinternen Konflikten herbeiführen.

Und dann ist das noch das Ding mit der Europawahl. Der Kater nach der Bundestagswahl scheint große Teile der Partei gelähmt und in Schockstarre hinterlassen zu haben. Zwei Komma X Prozent, das würde auch nicht für Plätze im Europaparlament reichen. Da braucht es also eine organisatorische Neuaufstellung, flankiert durch eine konsequente Vermittlung von relevanten Inhalten im Rahmen einer starken Personaldecke. Relevante Inhalte sind aus meiner – subjektiven – Perspektive: Kritik an der Re-Nationalisierung der europäischen Staaten, dem Einstehen für ein solidarisches Europa nach Innen und nach Außen, daraus folgend ein Ende der “Macht-durch-Schulden”-Politik und eine menschenwürdige Asylpolitik durch Abriss der Festung Europa. Am Ende des Parteitages war aber eher der Eindruck: „Aus Zeitgründen müssen die Piraten ihre Teilnahme an den Wahlkampfvorbereitungen leider absagen. Bitte ziehen Sie über Start und ziehen Sie keine 4000€ ein.“

Die Katerstimmung überschattet also die produktiven Chancen der Partei. Das Chaos während des Parteitages erstickt jedes Aufbegehren enagierter Arbeit. Die Konsolidierungsphase der Partei wird sich weit über das Jahr 2014 erstrecken. Eine langfristigere Planung – vielleicht sogar die ehrliche Nicht-Teilnahme an der EU-Wahl – scheint mir die einzige realistische Perspektive zu sein.

Im Maschinenraum 

Dazu kommt eine erbitterte Tool-Belt-Diskussion. Mit Liquid Feedback, Basisentscheid Online, Ständige Mitgliederversammlung und Dezentralen Parteitagen sind zahlreiche Möglichkeiten der Teilhabe der Basis an der Parteiarbeit in Produktion. Dem stehen rechtliche Bedenken, Konkurrenzen und persönliche Animositäten entgegen. Die Piraten brauchen nur in wenigen Punkten eine starke Führung. In dieser organisatorischen Sache scheint sie angebracht. Hier muss vermittelt und mit Hochdruck entwickelt werden. Denn wo diese Debatte einerseits einer der schlimmsten Spaltungsfaktoren innerhalb der Basis ist, so ist sie doch gleichzeitig eine der wichtigsten Perspektiven, die Partei zu professionalisieren und gleichzeitig den Idealismus einer Teilhabe-Partei in die bittere Parteienrealität zu transformieren. Mit kompetenten Entwickler_innen, Berater_innen und Jurist_innen sollte sich ein schlagkräftiges Team aus den einzelnen Fraktionen bilden, das an einer funktionierenden Einigung arbeitet.

Und dann kann man auch die Debatte um das Chaos führen. Delegiertensysteme auf den Parteitagen scheinen dann reizvoller und machbarer, wenn die Basis weiterhin machtvolle Möglichkeiten erhält, sich über Stimmungsbilder und direkten Delegationen (die on-the-fly entziehbar wären), einzubringen. Oder wenn zentrale Richtungsentscheidungen schon im Vorfeld oder im Zwischenfeld von Parteitagen getroffen wären.

Führungsfrust

Und während die Partei vor diesen Aufgaben steht, die viel Arbeit erfordert, aber kurzfristig kaum Früchte tragen wird, steht der Vorstand vor der Mammutaufgabe, genau diese Umstände erstmal zu reflektieren, Konsequenzen zu ziehen, Potentiale zu analysieren und damit Wahlen vorzubereiten. Parteifinanzierung wird bei gefrusteten Mitgliedern ohne wirkliche Zahlungspflicht ein wichtiger Nebenschauplatz bleiben. Kommunikation von Alleinstellungsmerkmalen – wie zum Beispiel einer schon seit einiger Zeit richtungsweisenden Asylpolitik – muss erfolgen, ”while its fresh and juicy.” Andere Parteien übernehmen ständig im Copy-and-Paste-Verfahren die Inhalte der Piraten. Fahrscheinfreier ÖPNV? Solidarische Asylpolitik? NSA- und Whistleblower-Debatte? Es scheint, als wären die Piraten eine gefahrlose Avantgarde, die für linke Parteien als ausgelagerte Inhaltsproduzentin genutzt wird. Deswegen muss der Zeitvorteil genutzt werden: Pressearbeit aufbauen, professionalisieren und nicht in idiotischen Attacken verkommen lassen.

… und der nächste folgt sogleich

Der nächste Parteitag ist nur einen Monat entfernt. Er bietet Chancen, die Fehler des unbefriedigenden Bundesparteitags 2013.2 zu korrigieren. Das Korrektiv muss dabei ganz klar auf eine dauerhafte und stabile Veränderung ausgerichtet sein, die die Basisstürme überlebt und auf Jahre einen festen, strategischen Kurs setzen kann. Die Chance der Stabilität wurde im Übrigen durch das nicht gewährte Vorstandsgehalt deutlich geschmälert. Wer gute und intensive Arbeit leisten soll, sollte das auch in der bürgerlichen Gesellschaft vergütet bekommen. Es ist – Arbeit!

Meine Empfehlung verbleibt immer noch: die inhaltlichen und organisatorischen Debatten sollten zentralisierter – d.h. über ein Publikationsorgan mit möglichst parteiweiter Reichweite – und tiefgründiger geführt werden. Es braucht parteinahe, aber unabhängige Think Tanks, die Kompetenz und Strategie mit ideologischer Grundlagensuche verbinden.

Nutzt die Chance, liebe Piraten, die Relevanz und der Erfolg kommt dann von allein. Und seid vor allem eins: geduldig.

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Falling Leaves in November – Novemberpogrome und Gedenken. https://www.meetinmontauk.de/2013/11/fallingleavesinnovember/ https://www.meetinmontauk.de/2013/11/fallingleavesinnovember/#comments Sun, 10 Nov 2013 13:32:16 +0000 https://www.meetinmontauk.de/?p=809  

Der gestrige Tag war im Gedenken an den 9. November 1938 geprägt. In den Novemberporgromen wurden durch die Mehrheitsgesellschaft über 1400 Synagogen zerstört, dazu viele Jüd_innen ermordet, verschleppt und in KZ verbracht. Das Dritte Reich läutete damit den Auftakt zur sytematischen Vernichtung jüdischer Menschen ein. In einer beeindruckenden und bewegenden Gedenkveranstaltung gedachte man in [...]]]>  

Deportationsmahnmal S-Bhf. Westhafen / Berlin. Fotograf: plomlompom.

Der gestrige Tag war im Gedenken an den 9. November 1938 geprägt. In den Novemberporgromen wurden durch die Mehrheitsgesellschaft über 1400 Synagogen zerstört, dazu viele Jüd_innen ermordet, verschleppt und in KZ verbracht. Das Dritte Reich läutete damit den Auftakt zur sytematischen Vernichtung jüdischer Menschen ein. In einer beeindruckenden und bewegenden Gedenkveranstaltung gedachte man in der Jüdischen Gemeinde Berlin den Ereignissen, zusammen mit Holocaust-Überlebenden, Gemeindemitgliedern und politischen Würderträger_innen.

75 Jahre danach. Und nichts ist überwunden. Der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde, Dr. Gideon Joffe, bemerkte ganz richtig: es ist leicht zu sagen, der mörderische Antisemitismus ist ablehenswert. Ich bin dagegen, dass Synagogen brennen. Ich bin dagegen, dass Jüd_innen vergast werden. Ich bin dagegen, dass auf offener Straße Jüd_innen erschlagen werden. Aber. – Und dieses “Aber” ist der zeitgenössische Antisemitismus. Israelkritik von “Links”. Die Verteufelung der Beschneidungspraxis – ein zentraler Bestandteil jüdischer Idenität. Rechte Verschwörungstheorien. Das Schimpfwort “Jude” auf den Schulhöfen. Gesellschaftlicher Antisemitismus ist nicht überwunden. Jüd_innen fühlen sich – wohl leider zurecht – von den antisemitisischen Ausprägungen in der Gesellschaft bedroht.

Wir saßen da, wir nickten. Intellektuell ist das zu begreifen, wir begreifen uns als solidarisch, wir fühlen uns in die Pflicht genommen. Danach schütteln wir Hände, erkundigen uns nach dem Wohlbefinden. Diejenigen von uns, die politische Ämter wahrnehmen, erweitern ihre Netzwerke. Stehen in der ersten oder zweiten Reihe für die Fotos. Demonstrieren ihr intellektuelles Verständnis nach Außen. Danach: gepflegt Essen gehen, den Alltag wieder einkehren lassen. Gedenken für uns in zwei Stunden. Nicht unbedingt Pflicht, aber auch kein Teil unserer Lebensrealität. Anders als viele Mitglieder der Jüdischen Community in Berlin und weltweit, in denen die Berichte und Erzählungen aus der Pogromnacht ein fester Bestandteil der Familienhistorie und des kollektiven Wissens sind. Und selbstverständlich das, was der 9. November 1938 einleitete. Die Shoa.

Wir gehen also ins Restaurant. Treffen uns mit Freunden, sitzen den Abend über Bier und Schnaps, philosophieren und diskutieren parteipolitische Strategien. Der Alltag fängt uns ein. Irgendwann verabschieden wir uns, “War ein schöner Abend”, lass uns das wiederholen. Unbedacht. Wir fahren nach Hause, nie darum fürchtend, dass die Fensterscheiben zerstört, die Privatheit in Brand geraten, die Existenz nihiliert wurde. Teil unseres Privilegs. Ein letztes Mal vor dem Einschlafen Twitter aufgemacht, schauen, was der Freundeskreis so macht, ob es Nachrichten gibt. Und dann steht da “Die Synagoge in Fulda wird angezündet.” – Ich stehe kerzengerade im Bett. Was geht da vor sich? Heute? An diesem Tag brennen Synagogen?

Ich lese weiter. Aus weiteren Orten werden brennende Synagogen gemeldet. Ich will mich anziehen. Müssen wir irgendwas in Berlin organisieren? Mein Hand liegt am Handy, bereit, Freund_innen anzurufen. Berichte trudeln ein, über zerstörte Scheiben, verschleppte Menschen. Und dann über Himmler, über die SA, über zusammengeschlagenen Menschen, über gestürmte Wohnungen. Im ganzen Bundesgebiet. Über Telegramme aus Frankreich. Alles kommt von einem Account, 9Nov38. Sein Titel: “Heute vor 75 Jahren.” Mir wird bewusst, was ich da lese. Verantwortlich zeigen sich mehrere Historiker_innen, z.T. Studierende.

Moritz Hoffman, Leiter des Projekts, beschreibt die Idee wie folgt:

Wir betrachten nicht nur den 9. und 10. November, sondern seine unmittelbare Vorgeschichte und die ersten Nachwirkungen. Wir beschränken uns also nicht auf 24-36 Stunden, sondern wollen nachverfolgen, was vor exakt 75 Jahren passierte, tages- und möglichst auch uhrzeitgenau. Dabei müssen wir Kompromisse machen – nicht immer sind genaue Zeiten überliefert. In solchen Fällen achten wir auf Plausibilität, und wenn diese nicht herstellbar ist, müssen wir auf den speziellen Tweet verzichten.

Das Ganze ist ein Experiment, es ist eine Auslotung unserer Fähigkeiten zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit, weder verdienen wir Geld damit noch geben wir welches aus, wir hoffen auf Leserschaft und erwarten auch Kritik. Wer immer uns etwas mitteilen möchte, sei dazu gerne hier oder an jeder anderen Stelle aufgerufen. Und vorläufig ist es für uns auch in erster Linie spannend.

Mit mir erstarrt mein Twitterumfeld. Es ist kurz nach Mitternacht, und die Möglichkeit, die historischen Ereignisse so nah an sich heranzulassen, schlägt meine soziale Peer Group in seinen Bann, entsetzt, erschüttert. Die Nachrichten, die in der Spanne eines Menschenlebens entfernt sind, wurden nur durch Tweets unterbrochen, die die Gefühle der Lesenden beschreiben. Genug waren den Tränen nahe, viele verspürten Wut, das Bedürfnis, aufzuspringen, so wie ich. Dazu die Empfehlungen, dass jetzt jeder das Feiern sein lassen sollte, sich hinsetzen solle, und das verfolgen sollte. Schon allein aus der Maßgabe heraus, dass es nie wieder geschehe. Und so wurde aus dem individuellen Konsum ein kollektives Gedenken. Menschen schrieben, wie sie auf einer Couch im Club saßen und vergaßen, dass sie unterwegs waren. Aus der Gedenkminute wurde für viele eine Nacht des Gedenkens. Kaum jemand konnte schlafen gehen, kaum jemand konnte aufhören, gebannt zu lesen. Auch ich schaffte erst in den frühen Morgenstunden, das MacBook zuzuklappen und einige Stunden Schlaf zu fassen. Als ich aufwachte, habe ich mich erschrocken: was, wenn ich etwas wichtiges verpasst habe? Erneut wurde mir bewusst, wie dünn die Spanne zwischen zwei verschiedenen Epochen durch die Berichterstattung im Livebericht geworden war.

Gerade politisch aktive Menschen sind es gewohnt, sich über Demonstrationen und Aktionen über abonnierte Hashtags oder Ticker-Accounts auf dem Laufenden zu halten. Wir verfolgen mit, was passiert, wir empören uns über Naziangriffe, über Polizeigewalt, über rassistische Kontrollen. Das scheint auf einmal alles so klein zu sein. Durch die minütliche Aktualisierung der historischen Begebenheiten wird mir die Totalität der Pogrome vor Augen geführt. Es ist keine Demonstration in Hamburg, keine Parkrodung in Stuttgart, keine Besetzung in Berlin. Es ist der allumfassende antisemitische Hass, der sich überall in Deutschland am 9. November 1938 entladen hat. Die Berichterstattung lässt mich über Orte lesen, deren Namen ich nie zuvor gehört habe. Sie lässt mich Teilhaben an dem Schicksal von Menschen, deren Name sich nirgendwo eingebrannt hat. Und das immer wieder aufs Neue, ohne Ende, ohne dass das Entsetzen Zeit findet, nachzulassen. Die Unmittelbarheit lässt das initiale Gefühl immer wieder aufleben: das ist so nahe, das klingt so plausibel, es könnte jetzt passieren. Es war historisch singulär, aber es ist wiederholbar. Und ich begreife diesmal nicht nur intellektuell, was an diesem Tag vor 75 Jahren passiert ist.

Ich weiß nicht, welche Preise es für diese Medienform geben kann. Ich weiß nur, dass dieses Jahr dieses Projekt sie alle bekommen sollte.

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Theorie.Kentern.Praxis – Piraten nach der Wahl https://www.meetinmontauk.de/2013/09/theorie-kentern-praxis-piraten-nach-der-wahl/ https://www.meetinmontauk.de/2013/09/theorie-kentern-praxis-piraten-nach-der-wahl/#comments Mon, 23 Sep 2013 20:26:56 +0000 https://www.meetinmontauk.de/?p=796 [tl;dr: Linken Think Tank aufbauen, um einer emanzipativen Bewegung, deren Teil die Piraten sein könnten, das theoretische und handlungsoptionale Fundament zu geben, dass sie im politischen Diskurs contra de facto schwarze Alleinherrschaft dringend benötigt.]

Als ich am vergangenen Sonntag auf meinen Wahlzettel runtergeschaut habe, war ich immer noch schwer am Überlegen. Als einer der ersten [...]]]> [tl;dr: Linken Think Tank aufbauen, um einer emanzipativen Bewegung, deren Teil die Piraten sein könnten, das theoretische und handlungsoptionale Fundament zu geben, dass sie im politischen Diskurs contra de facto schwarze Alleinherrschaft dringend benötigt.]

Als ich am vergangenen Sonntag auf meinen Wahlzettel runtergeschaut habe, war ich immer noch schwer am Überlegen. Als einer der ersten in Friedrichshain stand ich schon 8:30 Uhr im Wahllokal. Ich mag kein Anstehen und ich will Sachen abarbeiten, so funktioniere ich. Ich hatte mir vorgenommen, meine Stimmen sinnvoll zu splitten. Einerseits den Ströbele zu kippen, andererseits einer Partei in den Bundestag zu verhelfen, von der ich hoffte, dass sie dort mehr Profil zeigt als sie es jetzt gerade kann. Und dann stand ich da. Der Plan war gut, aber ungültig machen schien mir ähnlich sinnvoll zu sein. Nicht, weil ich die Piraten nicht mehr im Bundestag sah – das stand ja schon eine Weile fest – sondern weil ich daran zweifelte, was ich mit der Wahl der Partei erreichen wollte. Ich lasse hier offen, ob ich ungültig gestimmt habe oder der bürgerlichen Demokratie meine höchstpersönliche Legtimation überreicht habe.

Aber auch auf dem Weg nach Hause, der Hund rannte eh ständig vor und wollte sich nicht bespielen lassen, kam ich aus dem Nachdenken nicht heraus. Warum ist diese Partei eigentlich so zahnlos, so zerstritten, so seltsam dual? Auf der einen Seite haben wir effektive Fraktionen, die in den letzten Jahren Wähler_innen überzeugen konnten und es sich nach einiger Anlaufzeit in den Parlamenten bequem gemacht hatte. Sie sticheln die Regierungen, stellen kluge Fragen, entwickeln Expertise. Manche mehr, manche weniger. Manche Menschen wollen in diesem Abgeordnet_innen-Status sein, manche fühlen sich sichtlich unwohl. Sie haben die üblichen politischen Wehwehchen, die letztendlich doch nur die Menschen hinter den Zahnrädern des Politikbetriebes darstellen. Und sie erscheinen, mal mehr mal weniger, seltsam losgelöst von der Partei. Diese wiederrum leistet sich genau das, was andere Parteien sich auch leisten – aber für alle transparent. Die ganzen Kleinkriege, die ganzen Richtungs- und Personalkämpfe sind offen einsehbar. Für Parteiaktivist_innen sind sie durch die digitale Vernetzung nicht ausblendbar. Wo der CDU-Kreisverband seine monatliche Sitzung hat und ansonsten jeder sein Ding macht, ist man bei den Piraten jederzeit (an-)greifbar. Fehden werden dauerzeit ausgetragen, ständig müssen politische Entscheidungen getroffen werden, die die Richtung der Partei verändern oder die eigenen Positionierung erfordern. Viele Aktivist_innen haben sich in Diskursen über Sexismus, Post-Gender und Feminismus, über Post-Privacy, über rechts-links-Schemata und Extremismustheorien total aufgebraucht. Es ist leicht, aus dem Off anzugreifen und aus allen digitalen Rohren zu feuern. Die Filterbubble in herkömmlichen Parteistrukturen, das sieht man vom externen Blickwinkel, funktioniert einfach besser.

Als ich darüber nachdachte, was mir eigentlich an den Piraten gefällt, kam ich recht schnell auf: Berliner Realpolitik. Die Arbeit im AGH, die Arbeit in den Bezirksparlamenten. Aber die Partei ist nicht nur Berlin, auch wenn ihr das sichtbar gut täte. Ich erinnerte mich auch dunkel an die Arbeit in den anderen Landesparlamenten, aber natürlich ist mir das Lokale vertrauter. Ich habe mich immer wieder gefragt: warum hat man davon im Wahlkampf oder davor nichts gesehen. Die Plakate im Stile von “Sorry, wir versuchen es besser” fand ich lustig, ehrlich und … teilweise falsch. Warum, liebe Piraten, wird nur das eigene Scheitern kommuniziert? Das ist gut, dass ihr das ansprecht, das macht euch greifbar und sympathisch. Aber ihr habt einige interessante Arbeit zu bieten. Stellt heraus, in welchen Bündnissen ihr lokal mitwirkt, analysiert doch mal, welche Erfolge ihr im AGH verbuchen konntet. Gerade in Berlin wäre nach zwei Jahren Piraten in der Stadt eine Zwischenbilanz sinnvoll gewesen. Ich will wissen, was aus meiner Stimme von 2011 geworden ist, die ich als Vertrauensvorschuss gegeben habe. Hat sich das gelohnt, sollte ich das bei der Bundestagswahl wieder machen? Wenn diese Frage versucht wurde zu beantworten, dann nicht so, dass es bei mir ankam. Ich will dem nicht hinterherrennen müssen. Ich bin ein fauler Wähler. Einer, der daran zweifelt, ob er überhaupt wählen soll. Ihr habt es nicht gerade attraktiver für mich gemacht.

Und dann ist da die Sache mit den Inhalten. Und hier wirds ernst. Ihr habt ein Bundesprogramm, richtig? Meine Assoziation mit den inhaltlichen Vorstellungen der Piraten ist folgende: “Bedingungsloses Grundeinkommen”. Nach Wochen mit Plakaten überall und nach aufmerksamen Nachrichten lesen ist mir nichts (!) anderes im Kopf geblieben. Wenn ich so drüber nachdenke, bin ich sogar verwundert, wo eure vielbeschworenen Kernkompetenzen hin sind. Ich habe keine Ahnung, wofür ich das Kreuz gemacht habe oder hätte. Was wollt ihr denn, und dann noch wie, im Bundestag vertreten? Und während diese gähnende Inhaltsleere in meinem Kopf sich mit eurem Parteilogo verbindet, komme ich Zuhause an. Den Hund habe ich irgendwo unterwegs an einem Baum verloren, den er x-mal schnüffelnd umkreist und weit hinter mich zurückfällt. Ein kurzer Pfiff, und er schaut hoch. Etwas trotzig schaut er mich an, setzt sich dann aber in Bewegung. Letztendlich weiß er, dass ich immer noch die Hand bin, die ihn füttert. Und er mich ja eigentlich auch mag.

Wir stehen vor meiner Erdgeschosswohnung. Ein Nachbar kommt gerade schlaftrunken aus dem Flur. “Na, schon wählen gewesen?” Ich nicke kurz. “Ick mach auch gleich, aber ick verrat nicht wen.” Sehr gut, er hat das mit den Grundsätzen der geheimen Wahl verstanden. Mein Lächeln ist freundlich, aber trotzdem rumort es in mir: was der Typ wohl wählt? Sympathisch ist er ja. Also vielleicht Linke. Aber dafür ist er zu hip. Grüne? Nein, das passt nicht. Er ist zwar biodeutsch, aber kein Bio-Deutscher. Vielleicht hat er über die Piraten nachgedacht. Darüber, dass er in den letzten Monaten nur Chaos erlebt hat, dass ein Haufen seltsame Leute sich über Themen stritten, die ihm absolut nichts sagten. SMV? LiquidFeedback? Ich glaube, er will einfach wissen, wie sich die Piraten verhalten werden, wenn wieder deutsche Soldaten unsere Freiheit in irgendeinem Gebirge dieser Welt verteidigen sollen und dabei in schönster Wehrmachts-Tradition Krieg spielen dürfen. Oder wie die Piraten eigentlich dieses bedingungslose Grundeinkommen, was ihm ja ganz gut in den Kram passen würde wenn er die Gallerie aufmachen will, überhaupt bezahlen wollen.

Es fehlt an Richtung. Es fehlt an Diskurs. Dort wo Menschen sagen, sie wollen sachgerechte Entscheidungen treffen, bleibt die politische Richtungsentscheidung auf der Strecke. Dem deutschen Politikbetrieb mangelt es an wirklichen politischen Debatten. Man streitet sich um Zahlen, wo man sich um Ideen streiten sollte. Die “alternativlose” Politik der Regierung Merkel ist Träger dieser Politik-Kultur und die Piraten sind dafür schon von ihrer technokratischen Ausrichtung her anfällig. Wer Politik ausschließlich über Sachargumente “lösen” will, unterwirft sich einem Determinismus, der Diskurse blockiert.

Die Piraten müssen Mut haben, sich ein Profil zu geben. Dabei dürfen sie nicht die wirtschaftsliberale Rolle der FDP einnehmen, die es zum Zeitpunkt meiner Gedanken nur noch wenige Stunden mit einer Bundestagsperspektive geben soll. Die Ron-Paul-libertäre Ausrichtung mag vielleicht erklärtes Ziel einer starken und diskursübertönenden Fraktion in der bundesweiten Perspektive sein. Aber das ist nicht das Potential, welches in den Piraten steckt, das haben die Wahlergebnisse gezeigt. Sorry, aber ihr könnt ruhig etwas mehr Anarchie wagen – und das so sagen. Das Potential steckt in einer starken und modernen linken Ausrichtung. Dort, wo kritische Theorie ihre realpolitischen Anknüpfungspunkte findet, liegt die wahre Stärke der Partei, würde sie ihre Aktivist_innen an Bord halten können. Ihr ganzes Konzept sagt “Herrschaftskritik”, jetzt muss das klare Bekenntnis zur praktischen Umsetzung kommen. Feministischen, antirassistischen, antifaschistischen, ideologiekritischen, sozialraumanalysierenden Positionen muss Raum gegeben werden. Es muss ein gemeinsames Wertesystem entwickelt werden, das sich in den realpolitischen Entscheidungen widerspiegelt. Idioten, die das seit Jahren torpedieren muss eine klare Absage erteilt werden. Nazis bei den Piraten? Rauskicken, sofort, konsequent. Antisemit_innen? Kein Zaudern, absägen. Dazu müssen Strukturen geschaffen werden. Dazu müssen Inhalte erdacht werden. Dazu müssen – und das ist das wichtigste – Menschen, die die Schnauze voll hatten, aktiviert werden.

Inzwischen habe ich mir frischen Minz-Tee gemacht und mich an meinen Schreibtisch gesetzt. Vor mir liegen Bücher, Adorno/Horkheimer zum Beispiel oder Mahlmann’s Übersicht zur Rechtsphilosophie. Ich denke über Diskurstheorien nach. Legalistisch müsste man neue Verfahren erwirken, wirklich mal beim Urschleim anfangen und nicht nur vom Demokratie-Update reden, sondern drüber nachdenken: welche Demokratie, welche Institutionen, welche Verfahren will ich eigentlich wie updaten? Kann ich den Gesellschaftsvertrag auch ohne die AGBs gelesen zu haben mit einem Klick aufs entsprechene Kästchen abschließen? Welche demokratische Teilhabe ermögliche ich wem und warum? Das kann natürlich keine ganze Partei machen.

Wenn man frustrierte Exil-Pirat_innen einbinden will, braucht man eine außerhalb der Partei stehende Organisation. Einen sogenannten Think-Tank, der das linke Profil schärft und ein gesamtgesellschaftliches Konzept der Piraten und ihnen nahestehender sozialer Bewegungen aufzeigt, gleichzeitig aber ökonomisch und personell teilweise unabhängig agiert. Der Positionen entwickelt, an der sich die Partei orientieren kann, ohne dass sie das akademische Wissen, das dahintersteht, individuell sich aneigenen muss. Der Strukturen im Kleinen entwickeln kann, ohne sich durch ständige Querschüsse aus anderen Crews und Flügeln ablenken zu lassen. Eine Initiative letztendlich, die alle wichtigen gesellschaftlichen Akteur_innen an einen Tisch bringen kann, und dabei moderierend wirkt, ohne die politische Zielrichtung aus den Augen zu lassen. Das Konzept einer parteinahen Stiftung, eines Vereins, eines Think-Tanks, einer Initiative mag elitär sein. Aber mal ehrlich: dieser elitären Prägung seid ihr durch eure Rockstars in viel beschissenerem Ausmaße schon lange aufgesessen. Diese Form der Theoriearbeit, der Schaffung von praktischen Handlungsempfehlungen und der Analyse des Kenterns bindet unglaublich wichtige Menschen an euch: die linken Kräfte, die schon seit Monaten und Jahren ausgetreten sind oder über den Austritt nachdenken oder nie dabei waren. Ihr wisst wen ich meine. Deren kluge Gedanken ignoriert wurden, deren Personen attackiert wurden, deren Aktivismus blockiert wurde. Teilweise bis zur seelischen und körperlichen Selbstaufgabe. Genau deshalb muss es auch eine tragfähige Organisation sein. Wer dort arbeitet, muss dafür bezahlt werden. Das ist keine Freizeit, jedenfalls nicht für die, die ihr Studium lang geschuftet haben und nun vor der Wahl zwischen intensiver und grundlegender politischer Arbeit stehen oder Lohnarbeit, um sich zu ernähren. Bis zur Einführung des bedingungslosen Grundeinkommens (oder der sozialen Revolution) muss diese Arbeit in bezahlten Stellen geleistet werden.

Ich würde gerne in so einer Organisation gestaltend tätig sein. Meine Qualifikation in politische Arbeit einbringen. Und ich weiß, dass es vielen Menschen ähnlich geht, und dass sie mitziehen würden. Wenn wir ein starkes linkes Netzwerk aufbauen, dass den gesellschaftlichen Diskurs wieder in eine emanzipatorische Richtung verschiebt – auf parlamentarischer und außer-parlamentarischer Ebene – dann bleibt es auch nicht bei 2.2% für die Piratenpartei. Wenn in den kommenden Debatten eine kluge und moderne Wortführung übernimmt, dann hat man tatsächlich gestalterisches Potential.

Gerade in einer Zeit, in der die CDU nahezu die alleinige Macht hat, in der alles auf Law, Order and Economy hinausläuft, in der Sicherheitsarchitektur jede Dystopie der vergangenen überschatten wird und sich damit in einem internationalen Konsens der Machtsicherung bewegt, gerade da muss man anfangen, starke linke Alternativen aufzubauen. Dabei haben die Piraten das Potential, sich in eine starke Bewegung einzubinden, indem sie unterschiedlichste Gruppen und ihren gesellschaftlichen Input aufnehmen: Linksradikale, denen interessante Basiskonzepte erschließen; Linke, die sich nur schwer gegen alte SED-Genoss_innen und K-Gruppen-Kader_innen durchsetzen können; Grüne, die ihre zentralen Politikfelder verloren haben und die Bürgerlichkeit der Partei ablehnen; Sozialdemokrat_innen, denen die SPD zu beliebig geworden ist; Sozialliberale, die seit Jahrzehnten in der FDP nur noch Randfiguren waren.

Mein Tee ist getrunken. Der Hund schläft. Am Ende des Wahlabends steht mein fieberhaftes Zittern, dass die Rechtspopulisten der AfD den Einzug nicht schaffen. Und die CDU keine stabile absolute Mehrheit bekommt. Nochmal Glück gehabt. Aber wenn wir nichts unternehmen, läuft es beim nächsten Mal nicht so glimpflich ab.

Wer sich am Aufbau eines links-emanzipatorischen Think Tanks beteiligen möchte, kann sich gerne bei mir melden.

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#29C3 – Sexismus? Not My Department? https://www.meetinmontauk.de/2012/12/29c3-sexismus-not-my-department/ https://www.meetinmontauk.de/2012/12/29c3-sexismus-not-my-department/#comments Sat, 29 Dec 2012 14:59:55 +0000 https://www.meetinmontauk.de/?p=783 Ich bin nicht auf dem #29C3. Das ist vielleicht die wichtigste Vorbemerkung zum Artikel. Ich sitze in Berlin in der C-Base und schaue mir die Live-Streams an, folge vielen Menschen, die vor Ort sind, auf Twitter und lese nachbereitende Blogartikel.

Dieses Jahr ist das Thema Sexismus, was auf den letzten Kongressen, für viele wahrscheinlich unterschwellig, [...]]]> Ich bin nicht auf dem #29C3. Das ist vielleicht die wichtigste Vorbemerkung zum Artikel. Ich sitze in Berlin in der C-Base und schaue mir die Live-Streams an, folge vielen Menschen, die vor Ort sind, auf Twitter und lese nachbereitende Blogartikel.

Dieses Jahr ist das Thema Sexismus, was auf den letzten Kongressen, für viele wahrscheinlich unterschwellig, schon immer anwesend war, sehr präsent. Vor allem, weil es halb-organisierte Strukturen gibt, die systematisch Übergriffe jeder Art, deutlich anprangern und Verfahrensweisen vorschlagen (die rot/gelb/grünen Karten z.B.). Das ist, so weit ich es beurteilen kann, eine gewachsene, aber insgesamt neue Qualität. Folgender Effekt: es gibt nicht mehr (Alltags-)Sexismus als vorher, er wird nur durch die kontinuierliche Arbeit offensichtlicher. Das fühlt sicher bei vielen zu einem gefühlten Ansteigen und den vor der Brust verschränkten Armen: “Kann ich mir gar nicht vorstellen, dass das so schlimm ist, war doch bisher immer entspannt.” Nein, war es nicht. Der Kongress ist, im Großen und Ganzen, ein Abbild der Gesellschaft. Und die ist nicht entspannt.

Haupt- und Nebenkonflikt?

Eine Hackerbewegung ist mehr als nur ein einziger gesellschaftlicher Kampf, viel mehr besteht er aus vielen Konflikte, die überall ineinandergreifen. Wenn man sich den Fahrplan des Kongresses anschaut, dann sieht man, das es um Datenfreiheit, um Transparenz, um Anti-Militarismus und um vieles mehr geht. Die Besucher_innen lassen sich darauf ein, bauen ein konstruktiven Diskurs über die Konfliktfelder auf, wägen Pros- und Contras ab. Bei Sexismus scheint das nicht zu passen, es werden Fronten aufgebaut, weil man(n) sich in seiner Persönlichkeit angegriffen fühlt – weil die Konflikte, die sonst ganz abstrakt behandelt werden, auf einmal extrem real sind? Weil man nicht auf der Seite der Guten (?!) steht? Weil der eigene Lebensentwurf komplett in Frage steht? Ganz ehrlich: tut er nicht. Es ist großartig, was die netzpolitische und Hacker-Bewegung auf der Welt leistet. Viel mehr als alle anderen sozialen Bewegungen hat sie ihr Wissen genutzt, um die Bedingungen zu verändern mit Annahmen, die auf gesellschaftlichen Idealen basieren. Der Schritt zum antisexistischen Verhalten ist da nicht weit. Die Auflösung von Privilegien und/oder Diskriminierung aufgrund von unterschiedlichen körperlichen oder sozial-konstruierten Geschlechtern (sex & gender) ist ebenso ein gesellschaftliches Ideal. Die bestehenden Verhältnisse gilt es zu hacken. Das heißt nicht, dass man mit allem, was an Input aus der feministischen Bewegung kommt, konform gehen muss. Aber wenn man konstruktiv damit umgehen will, muss man sich zwangsläufig erstmal mit dem eigenen Verhalten beschäftigen. Das heißt, man muss auf Augenhöhe kommen, und das tut man nicht, in dem man aktiv durch den eigenen beschissenen Humor Menschen herabwürdigt und ihnen das Gefühl gibt: “Verpiss dich aus meinem Revier.” Und das macht man auch nicht, indem man passiv solches Verhalten stützt. Das Jeopardy der gestrigen Nacht hat beides sehr gut vor Augen geführt. Der Idiot auf der Bühne. Eine schweigende Masse. Und die tollen Menschen, die es begriffen haben und gleichzeitig den Sinn der CreeperCards sehr schön demonstriert haben: als simples Zeichen für “Es ist Zeit, deine Fresse zu halten, einen Gang runterzuschalten und die Situation zu reflektieren.” Es ist kein weiter Weg, diesen Schritt nach vorne zu machen und es ändert euer Leben nicht. Aber es macht das Leben im Endeffekt schöner. Eigentlich braucht man diese ganzen Privilegien nämlich nicht.

Wenn man erstmal auf dem Niveau angekommen ist, dass die Basics aktzeptiert werden und man sich hinsetzt und anfängt zu reden statt zu haten, dann kann man weiter gehen. Dann kommt man sicherlich auf Konfliktpunkte wie eine weitgehend akademische Sichtweise des Feminismus in der Hackerbewegung, auf die Frage nach Praktikabilität in sozialen Kämpfen, nach Modalitäten, nach Ausfransungen, man kommt zu all den kleinen Debatten, die ansonsten auch im Feintuning die restlichen Kongressthemen bestimmen. Frei nach Refpolk im Song “Einige meiner besten Freunde sind Männer“: Sieh mich als ein Prozess voller Zweifel am Keyboard, denn Befreiung heißt für mich auch die Suche nach Alternativen zum “Mann”. Wenn man aber keinen gleichberechtigen Raum zur Diskussion zur Verfügung stellt, dann kann man auch nicht erwarten, dass irgendwer darauf Bock hat sich auf eine Debatte einzulassen, in der man konstant als geringwertig eingeschätzt wird. Ich selber bin kein Feminist. Aber ich hab sehr schnell kapiert, dass mir niemand in meinen bevorzugten politischen Tätigkeitsfeldern zuhört, wenn ich nicht bereit bin, mich an einem bestimmten Grundkonsens zu halten. Und die Perspektive hat mir bisher nur Gutes gebracht in meiner kritischen Reflexion von Macht, Herrschaft und Gesellschaft. Das wirkt sich auch positiv auf die politische Arbeit in anderen Bereichen aus. Bildet euch, bildet Banden.

Atmosphäre der Angst

… und dann ist da noch die Sache mit den Idioten, die meinen, eine Gegenbewegung starten zu müssen. Ihre Männlichkeit, ihren guten Ruf, ihre gesellschaftlichen Privilegien zu verteidigen, indem sie die Realdaten von Aktivistinnen im Netz veröffentlichen. Das verunmöglicht jede Form von konstruktivem Diskurs. Es wird ein Atmosphäre der Angst erzeugt, die Menschen davon abhält, sich zu äußern. Ich habe lange überlegt, ob ich Bock darauf habe, zu dem Thema etwas zu schreiben, weil die Chance nicht klein ist, dass ich auf irgendeiner “femnazi watchblog liste” (wtf?!) lande.  Das Veröffentlichen von Daten ist ein politisches Kampfmittel. Es macht in meinen Augen Sinn, um z.B. Nazistrukturen offensichtlich zu machen und ihnen den gesellschaftlichen Raum zu nehmen. Es ist aber ein Mittel, dass mit Vorsicht eingesetzt werden muss. Es richtet sich ganz eindeutig gegen solche, die noch mehr mit ihren konkreten Aktionen als mit ihrem politischen Handeln Menschen in ihrem Leben bedrohen. Feminist_innen durch die Aktionsform damit gleichzusetzen ist einfach nur widerlich. Damit stellen sich die femwatch-Leute auf eine ähnlichen Stufe wie Neonazis, die das Bedrohungsszenario im Rahmen ihrer Anti-Antifa-Aktivitäten aufbauen und mit ihrer Veröffentlichung von Daten oft die Drohung mit körperlicher Gewalt verbinden. Und wie lange soll es bitte schön dauern, bis in der wertgeschätzten Anonymität des Kongresses dieser Schritt getan wird, ergo: es ist nur noch einer kleiner Schritt, um die veröffentlichten Personen zum Freiwild zu erklären und zum Abschuss freizugeben.

Not my department?

Es geht alle etwas an. Der Kongress sollte barrierefrei zugänglich sein und das Kongressmotto agiert dabei wunderbar als Aufforderung an den CCC selber und an die Besucher_innen. Barrieren gibt es genug, im körperlichen, in den Köpfen, in den Herzen. Es wird daran gearbeitet, diese Barrieren abzubauen und Kongress, Bewegung und Gesellschaft ein ganz kleines Stück angenehmer und herrschaftsfreier zu gestalten. Denkt darüber nach. Steht dem nicht im Weg. Ändert euch. Helft, wo ihr könnt. Denkt nochmal drüber nach. Und dann, wenn ihr wollt, bringt euch in die Debatte ein.

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Blogger-Aktion: NachDenken-Mixtape für Kirchberg https://www.meetinmontauk.de/2012/07/blogger-aktion-nachdenken-mixtape-fur-kirchberg/ https://www.meetinmontauk.de/2012/07/blogger-aktion-nachdenken-mixtape-fur-kirchberg/#comments Sat, 28 Jul 2012 14:15:46 +0000 https://www.meetinmontauk.de/?p=737 Es schwingt ja immer mal wieder mit, dass wir böse Blogger und Medien nur meckern können, aber von weit weg gegen das arme Dorf hetzen. Dem würde ich gerne eine kleine Aktion entgegensetzen, eine Blogparade quasi: Wir Blogger, wer sich da beteiligen möchte, erstellen viele kleine Playlist’s und Mixtapes, die den Schülern der KGS Kirchberg [...]]]> Es schwingt ja immer mal wieder mit, dass wir böse Blogger und Medien nur meckern können, aber von weit weg gegen das arme Dorf hetzen. Dem würde ich gerne eine kleine Aktion entgegensetzen, eine Blogparade quasi: Wir Blogger, wer sich da beteiligen möchte, erstellen viele kleine Playlist’s und Mixtapes, die den Schülern der KGS Kirchberg zeigt: hey, es gibt noch andere Musik, weitab von Sleipnir und Onkelz, die eure Gefühle ausdrücken kann und euch dazu auch noch zum kritischen Nachdenken bringt, die die Welt in ihrer Komplexität ausdrückt und euren Problemen und Sorgen gerecht wird und versucht, vernünftige Antworten darauf zu finden. Erwartungsgemäß werden sich dabei viele Songs gegen Rechts einfinden, aber mein Wunsch wäre, dass wir es schaffen, über unsere Musikauswahl Anstoß für eine reflektierte, nachdenkliche, energische, autonome und positive Jugendkultur zu geben.

Beteiligte Blogs:

Meine Playlist:

wird laufend ergänzt

1. Berlin Boom Orchestra – Nicht Egal

Mehr nach dem Break.

2. Schlagzeiln – Deutschland ist ein Athlet

3. Frittenbude – Bilder mit Katze

4. Feine Sahne Fischfilet – Eure Welt

5. Johnny Mauser & Captain Gips – Willkommen

6. Konstantin Wecker – Sage Nein

7. ZSK – Dabei sein ist alles …

8. Loikaemie – Beschissenes Kleines Leben

9. Tocotronic – Aber hier leben, nein danke

 

Musik aus den Kommentaren:

Freundeskreis – Leg dein Ohr auf die Schienen der Geschichte

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Wenn alle mitsingen … – Rechtsrock auf Abschlussfeier https://www.meetinmontauk.de/2012/07/wenn-alle-mitsingen-rechtsrock-auf-abschlussfeier/ https://www.meetinmontauk.de/2012/07/wenn-alle-mitsingen-rechtsrock-auf-abschlussfeier/#comments Wed, 25 Jul 2012 11:35:30 +0000 https://www.meetinmontauk.de/?p=697 Habt ihr die Artikel und Statements vor euren Augen, die Nazis als Randgruppenproblem der Gesellschaft marginalisieren und eine Anschlussfähigkeit der “demokratischen Mitte” für nicht möglich halten? Auf Facebook bin ich vorhin über einen Link zu YouTube gestolpert, der exemplarisch wunderbar das Gegenteil beweist. Aber um erstmal auszuholen: es geht um Sleipnir. Sleipnir ist eine Naziband, [...]]]> Habt ihr die Artikel und Statements vor euren Augen, die Nazis als Randgruppenproblem der Gesellschaft marginalisieren und eine Anschlussfähigkeit der “demokratischen Mitte” für nicht möglich halten? Auf Facebook bin ich vorhin über einen Link zu YouTube gestolpert, der exemplarisch wunderbar das Gegenteil beweist. Aber um erstmal auszuholen: es geht um Sleipnir. Sleipnir ist eine Naziband, sie spielen beliebten Rechtsrock.

„Sleipnir“ ist das Pseudonym des rechtsextremen Liedermachers Marco Laszcz und gleichzeitig der Name der Band, dessen Kopf er ist. Die Band wurde Anfang der 1990er Jahre in Verl/Gütersloh (Nordrhein-Westfalen) gegründet und ist seitdem in unterschiedlichen Besetzungen aktiv. Sie unterhält Kontakte zum verbotenen Blood&Honour-Netzwerk, zur Szene der freien Kameradschaften und zur NPD. — Netz gegen Nazis

Sleipnir sind also nicht nur irgendeine rechtsoffene Rockband wie die Böhsen Onkelz, diverse Oi-Formationen etc.; vielmehr sind sie im selben Umfeld vernetzt, dass, wie im Falle von Blood & Honour, den NSU hervorgebracht hat.

Auf YouTube ist nun ein Video zu finden, dass eine gesamte Abschlussklasse zeigt, wie sie im Chor das Lied “Verlorene Träume” von Sleipnir aufführt. Nicht betrunken mitgröhlt, nein: auf einer Bühne, augenscheinlich in der Schule in der Stadthalle, aufführt.

Das originale Video mit inzwischen über 20.000 Zugriffen ist noch auf YouTube zu finden, allerdings für den deutschen Sprachraum gesperrt. Inzwischen komplett vom Nutzer rausgenommen worden, hier ist aber ein Mirror verlinkt. Zitate von Kommentaren beziehen sich darauf.

Bei dem Ort handelt es sich dem Stadtwappen zufolge um Kirchberg, ein Gemeindeteil von Hunsrück, in Rheinland-Pfalz. Bei der Schule wird es sich um die Haupt- oder Realschule handeln, die in diesem Ort angesiedelt sind. Ich habe beide Schulen die Schulleitung der kombinierten Schule um Stellungnahme gebeten. Der Veranstaltungsort ist die Stadthalle Kirchberg (via Kommentar im Kraftfuttermischwerk), vergleiche auch die Website eines Chors (von dem Sachverhalt total unabhängig und nur zur Beweisführung dienlich). Auch an den Bürgermeister ging eine Anfrage raus.

Die Lehrer waren sich laut eines YouTube-Kommentars des Problems wohl bewusst. Der Nutzer BVEboStar kommentierte:

die Lehrer wussten das teilweise… Viele sind einfach rausgegangen als wir angefangen haben zu singen…

Anstatt also einzugreifen, flüchtete man. Viel mehr kann man zu der Sache einfach nicht sagen. Offen bleiben die Fragen, warum es zugelassen wurde, warum nicht interveniert wurde und warum eine gesamte Abschlussklasse sich hinstellt und ungestört und gemeinschaftlich Rechtsrocklieder singt.

Neue Entwicklungen nach dem Break:

Update 1:

Eine lokale Antifa-Initiative beschreibt, etwas unaktuell, die Naziaktivitäten in Kirchberg als verstärkt, vor allem in Propagandaaktionen.

In Kirchberg wurden etwa nochmals 50 Aufkleber verklebt, dort vor allem an der Hauptstraße, der Kappeler Straße und am Schulgelände. (Hervorhebung vom Autor)

Stadt und Schule müssten also über rechte Umtriebe Bescheid gewusst haben.

Update 2:

Auch das antifaschistische infobüro Rhein-Main hat heute berichtet und konnte genauere Informationen geben.

Die Schüler_innen der zehnten Klasse der Kommunalen Schule in Kirchberg im Hunsrück sangen im Juni 2012 gemeinsam das Lied “Verlorene Träume” der Neonazi-Band “Sleipnir” auf der Bühne der Stadthalle Kirchberg. [...] Erste Recherchen ergaben, dass sich durchaus mehrere Schüler_innen des Jahrgangs gegen Nazis positionieren. Warum sich eine Gruppe mit einem derartigen Lied durchsetzen konnte, werden die anwesenden Lehrer_innen, Eltern und Schüler_innen beantworten müssen.

Update 3:

Der ZEIT Störungsmelder hat versucht Kontakt herzustellen, bisher vergeblich.

Laut der Stadtverwaltung hatte die Realschule Kirchberg die Stadthalle für ihren Abschlussball gemietet. Wie es dazu kommen konnte, dass die Schulband das Lied einer Nazigruppe für den Festakt vorschlug und niemand es bemerkte, bleibt unklar. Die verantwortliche Schulleitung war am Mittwoch telefonisch nicht erreichbar.

Update 4:

Weil ich auf diversen anderen Blogs/Plattformen lese, dass die Lehrer machtlos gewesen wären: Laut den Informationen des oben zitierten Störungsmelder-Beitrags hat die Schule den Saal gemietet. Der Schluss liegt nahe, dass sie dann auch Veranstalterin war und die Lehrer als auch Schulleitung ihr Hausrecht ausüben konnten. Ein Handlungsmöglichkeit der Lehrer war also durchaus gegeben.

Update 5:

Inzwischen gibt es auch Diskussionsverläufe auf Indymedia und Linksunten, wo u.a. von lokalen Antifaschisten mehr Informationen über beteiligte Personen recherchiert wurden. Auf meine E-Mail-Anfragen wurde bisher keine Antwort gesendet, auch die offiziellen Seiten von Schule und Stadt äußern sich nicht. In Kommentaren wird auch nochmal auf einen interessantes Umstand eingegangen: Sleipnir waren auf fast allen der veröffentlichten Schulhof-CDs der NPD vertreten – das Projekt der Partei hat also hier wohl durchschlagenden “Erfolg” gehabt. Auch hätten die Lehrer schon aufgrund dieses Umstandes wissen müssen, womit sich ihre Schüler so beschäftigen, bzw. konkret wer Sleipnir ist und was sie dort singen.

Update 6:

Das orginale Video ist für deutsche Benutzer inzwischen gesperrt, kann aber noch über ProxTube oder ähnliches angeschaut werden. Es gibt eine zweite Aufnahme von einem anderen Schüler, außerdem einen Vimeo-Mirror von dem ersten Video, beide sind oben eingefügt. Bei Und So Zeug gibt es weitere Recherchen zum Umfeld der Schule, insbesondere auch zu Kontakten vom Uploader des ersten Videos (GamerComander) und zum Ersteller des zweiten Videos.

Ähnlich sieht es im Youtube-Kanal von “Hennesgeist” aus. [...] Er mag neben Sleipnir und den Onkelz vor allem “Kommando Freisler”. [...] Die Seiten von 30Blackwolf und BlackwolfGamer, scheinbar Brüder, ebenfalls aus Kirchberg stammend und Gamerkumpels von Gamecommander, verweisen auf den gleichen Politik- und Musikgeschmack.

Auf Linksunten wurden neben den Personendaten übrigens auch für den einen Kommentator gruselige Verknüpfungen in die Militanz hergestellt: so ist er Mitglied der Gruppe GSGH, eines lokalen Airsoft-Teams (“taktisches Geländespiel“) – übrigens auch mit offiziellen YouTube-Kanal, der Sleipnir positiv bewertet, und dem Schützenvereins SV St. Hubertus Rödelshausen 1931 e.V. – das ist die hochexplosive Mischung, aus der junge Breiviks und NSU’ler entstehen können.

Update 7:

Inzwischen sind beide Videos auf YouTube von den jeweiligen Nutzern gelöscht worden. Publikative hat aber vorher noch einen Screenshot von einem Statement von “GamerComander”, der Uploader des ursprünglichen Videos, machen können.

Kleine Information an euch, dieses Lied ist nicht verboten und wurde von Lehrern, sowie Schulleitung erlaubt also spart euch eure Dummen Kommentare von wegen ” mails an die Schulleitung usw”

Es entsteht also immer mehr der Eindruck, dass ein schwerwiegendes Fehlverhalten der Schule und ihrer Lehrer vorlag. Die bisher nicht erfolgten Stellungnahmen gegenüber mir oder der ZEIT machen diesen Umstand nicht besser.

Update 8:

Damit ist es dann auch in den großen Medien angekommen: die Rhein-Zeitung greift den Fall auf. Die Schule mauert immer noch, die Kommunalverwaltung zieht sich auf Betroffenheit zurück. Ob und wie ein Aufklärungsprozess stattfinden wird – schwer abzuschätzen. Gerade kleinere Orte gehen oft, nachdem die Reporter weg sind, wieder zum Tagesgeschäft über, als ob nichts geschehen wäre. Ob Kirchberg hier eine Ausnahme bietet?

Schon die Aufssichtsbehörde redet das Problem klein.

Mittlerweile hat sich auch die ADD mit dem Thema befasst. „Obwohl der Text kein offensichtlich erkennbares rechtes Gedankengut wiedergibt, zeigt doch die Auswahl des Liedes dieser Band durch die Schüler deren bedauerliche jugendliche Naivität und Unüberlegtheit“, heißt es in einer Stellungnahme.

Hier geht es schon längst um viel mehr als “bedauerliche jugendliche Naivität”. Zumindest einer der Akteure fühlt sich im neonazistischen Milieu mehr als heimisch und hat eine Waffenausbildung (s.o.); auch gibt es offensichtlich in Kirchberg eine aktive Neonazisszene, die sich durch Propaganda-Aktivismus öffentlich zeigt (s.o.).

Auf jeden Fall ist es auch bei den entsprechenden rechtsgerichteten Schülern angekommen: nachdem ihre Daten auf Linksunten veröffentlicht wurden (s.o.), sind inzwischen sämtliche Facebook- und YouTube-Profile gelöscht.

Update 9:

Inzwischen ist eine dapd-Meldung ausgegeben worden, sodass zu erwarten ist, dass die Berichterstattung der großen Medienhäuser zunehmen wird (auch wenn sie oft nur die Meldung übernehmen und selten tiefer graben). Exemplarisch sei auf das Newsportal von T-Online verwiesen. Mal sehen, ob aus der überregionalen Berichterstattung und dem daraus folgenden Rechtfertigungsdruck sich etwas ergibt. Nicht vergessen, wo ihr es zuerst gelesen habt: bei Ronny oder bei mir.

Update 10:

Auf dem Störungsmelder gibts noch einen interessanten Kommentar. (via Süddeutsche/Jetzt)

Ja da haben sie recht. Ich war schüler der Klasse 9d ich habe mit diesen Abschlus gefeiert ! Und es ist eine Neo-Nazi band da hat jeder recht! Und wir haben auch nach einem Lied geschaut ! aber wir habn uns entschieden dass wir das von Sleipnir nehmen. Weil es einfach am besten ( wie schon gesagt von ihnen ) unsere Gefühle ausdrückt. Einfach nur so einen Aufstand zu machen weil das Lied ( obwohl in dem Lied kein wort von rechts oder sonstigem vorkommt ) von so einer Band kommt kann ich nicht verstehen!

Von nichts gewuszt“, wie viele Kommentatoren ausführen, trifft die Sache hier wohl nicht ganz.

Update 11:

Hat sich ja einiges getan, während ich an der amerikanischen Ostküste geschlafen habe. Mein Postkasten quillt gerade über. Da sind einerseits natürlich die vielen Kommentare, die ich hier nicht freischalte. Meistens sagen sie einfach nur “Alles nicht so schlimm, schönes Lied.”, dann gibts einige Spezialisten, die meinen, Real- und Hauptschüler wären minderwertig und deshalb wäre das Ganze kein Wunder, dann vereinzelt Nazikommentare und natürlich: die Betroffenden selber. Die, trotz nachweisbarer Affinität, allen Bezug zu Rechtsrock ablehnen und mit Beschwerden drohen. Und dann was sehr interessantes.

Ich komme ursprünglich aus der weiteren Gegend um Kirchberg und bin
bei SPON über “Kirchberg” gestolpert und dementsprechend neugierig
geworden. Der Hunsrück hatte auch zu meiner Jugendzeit bereits ein
massives “Neo-Nazi-Problem”. In vielen Jugendräumen der Dörfler läuft
gar nichts anderes als diese angesprochene Musik. Wenn man weiß, dass
es auf dem Land keine Alternativen zu den angesprochenen Jugendräumen
gibt, braucht man sich keine weiteren Gedanken zum Thema “Schulhof
CDs” zu machen. Diese CDs sind dort wo das Gedankengut der Rechten
berets in der Jugend angekommen ist vor allem ein Propagandamittel das
einschüchtern soll. Den Mitschülern und Eltern sowie den Lehrern soll
gezeigt werden, dass man angekommen ist – mitten in den Klassenräumen
und in den Kinderzimmern der Jugendlichen.
[...]
Wir, die wir aus dem Rheintal kamen, haben u.a. aus diesem Grund in
unserer Jugend den (Vorder-) Hunsrück in großen Teilen gemieden; nicht
weil wir uns mit der Problematik nicht auseinander setzen wollten,
sondern weil schon damals vor 15 Jahren keiner mehr gegen die braune
Soße angekommen ist.

Es ist also längst keine heile Welt, wie das so manche Stellungnahmen vermitteln wollen. Den gleichen Eindruck habe ich auch bekommen, als ich mich von Facebook- zu Facebook-Profil geklickt habe, durch die YouTube- und Gamer-Seiten, durch die Selbstdarstellung der Mitglieder in dem oben erwähnten AirSoft-Team. Geradezu naiv mutet die Aussage des stellvertretenden Schulleiters an, der auf Spiegel Online zitiert wird.:

Vizeschulleiter Stoffel betont, die KGS Kirchberg habe bisher keine Probleme mit rechtsextremen Tendenzen unter Schüler gehabt. “Unsere Schule ist vehement gegen rechts, pflegt seit Jahren vielfältige Kontakte zu Partnerschulen im Ausland.” Regelmäßig gäbe es Schüleraustauschprogramme in europäische Nachbarländer.

Viele der Profile, die ich gefunden habe, waren Schüler dieser Schule, vor allem in der 8./9./10. Klasse. Die Tendenzen sind da, vielmehr unter Anbetracht der Stellungnahme oben: die Verwurzelung. Der Verweis auf Partnerprogramme ist doch kein legitimer Nachweis darüber, dass man sich gegen Extreme Rechte engagieren würde. Der Schule fehlt es angesichts solcher Aussagen wohl an grundlegenden Kenntnissen, wie man einer rechten Jugendkultur präventiv begegnet und sie aufarbeitet. Die Reaktion der Aufsichtsbehörde ist auch nicht viel besser: sicherlich ist es wichtig, solche Sachen zu unterbinden – das kann aber nur ein Teil der Aufarbeitung durch die Behörden sein. Der andere Teil muss die unbedingte Stärkung des zivilgesellschaftlichen Engagements vor Ort sein, die Zusammenarbeit mit den lokalen antifaschistischen Initiativen und Antifa-Gruppen.

Zu guter Letzt sei darauf hingewiesen, dass sich die NPD erwartungsgemäß einen Jux aus dem Thema macht, wie stern.de berichtet.

Nach dem einige einschlägige Blogs und lokale Medien über den unsäglichen Auftritt in der Stadthalle von Kirchberg berichtet hatten, hat auch die rechtsradikale NPD den Vorfall für sich entdeckt: Jürgen Werner Gansel, Abgeordneter der Partei in Sachsen, notiert in einer Presserundmail den selbstzufriedenen Satz “Schüler singen auf ihrer Schulabschlußfeier ein Lied der NPD-nahen Rockband ‘Sleipnir’” – und fügt eine Linksammlung zur bisherigen Berichterstattung bei.

Update 12:

Der bisher treffendste Beitrag in den großen Medien, der sich mit dem Thema beschäftigt, kommt von der Frankfurter Rundschau.

Wie lange wollen die Betroffenen noch die Augen vor Realität verschließen? Wo Nazi-Musik kursiert, da ist auch der Nazi nicht weit. Niemand wird als Nazi geboren, eine durchdringende Szene und eine ignorante Gesellschaft schaffen erst den Nährboden.

Update 13:

Ich kann nur unbedingt auf diesen Kommentar verweisen. Vielen Dank an die aufmerksamen Rheinländer, die mir E-Mails schreiben und Kommentare hinterlassen.

Und bei der Süddeutschen gibt es ein Interview mit Jan Raabe, der treffend zusammenfässt, was eine der Kernproblematiken hier ist.

Der Vorfall zeigt, dass das, was Sleipnir versuchen, ein Stück weit funktioniert: Lieder zu spielen, die softer oder sogar ganz soft sind, und eine weitere Verbreitung finden. Sleipnir hören auch Jugendliche, die nicht zum klassischen neonazistischen Kern gehören. Aber der Band gelingt es offensichtlich, zu denen eine Brücke zu bauen. Und wenn die soweit reicht, dass ihre Lieder auf einer Abschlussfeier gesungen werden, dann ist das für die Band ein Erfolg. Bei der extremen Rechten wird das ein höhnisches Grinsen über ihre Reichweite auslösen.

Die Rhein-Zeitung hat inzwischen etwas mehr Material vor Ort sammeln können. Die Ereignisse haben Trubel ausgelöst, das ist jetzt nicht mehr zu übersehen. Ich glaube, man wird sich da erst langsam bewusst, dass man im Ort und an der Schule lange im Dornröschenschlaf war und ein bisschen gegen rechts sein nicht hilft, wenn man eine verankerte Jugendkultur im Landkreis hat.

Das gelte es nun aufzuarbeiten. „Dazu werden wir uns auch professionelle Hilfe von Außen holen“, erklärt Stoffel. Das Programm der Abschlussfeier sei zwar „grundsätzlich mit der Schulleitung abgesprochen“ gewesen: „Aber nicht bis ins letzte Detail. Außerdem war mir die Band Sleipnir bis Donnerstag völlig unbekannt.“ Ob das Lied aus „jugendlicher Naivität“ oder ganz bewusst ins Programm aufgenommen wurde, gelte es nun aufzuklären. „Von den Lehrern hat mit Sicherheit niemand die Hintergründe gekannt. Auch hat niemand die Stadthalle verlassen, als die Schüler das Lied gesungen haben, wie vielfach behauptet wurde.“ Was nicht verwundert: Der Text weist keinerlei rechte Passagen oder Tendenzen auf.

Externe Hilfe ist kein schlechter Gedanke. Ich hoffe, man wendet sich nicht an den Verfassungsschutz, den der dürfte, was die Wissensbasis angeht, in ähnlich desolater Lage sein. Ich empfehle den hier mitlesenden Verantwortlichen, es eher bei zivilgesellschaftlichen Vereinigungen wie dem oben erwähnten Antifaschistischen Infobüro Rhein-Main zu versuchen.

Zusammen mit unseren KooperationspartnerInnen bieten wir Bildungsveranstaltungen und Seminare zu verschiedenen Themen an. Nähere Informationen hierzu können beim Antifaschistischen Infobüro Rhein-Main oder bei unseren KooperationspartnerInnen erfragt werden.

Wer sich übrigens Impressionen von vor Ort anschauen will, dem sei der Kurzbeitrag vom SWR ans Herz gelegt.

Update 14:

Es gibt auch einen längeren Radio-Bericht bei SWR 4. Die Schule hättte sich in Vergangenheit mit “Projekten gegen Rechts” positioniert, ein Multi-Kulti-Musical z.B. und eine Schweigeminute, sagt der stellvertretende Schulleiter. Rechte Tendenzen wären wenn, dann nur versteckt vorhanden. Eine sehr oberflächliche Einstellung zum Thema “Extreme Rechte”, die gerade als Sozialkundelehrer hinterfragt werden sollte. Und die versteckten braunen Tendenzen sind für mich nach wenigen Minuten Recherche zu Tage getreten – wo also war die Schule die letzten Jahre? Warum hat keiner die Freizeitbeschäftigung der Jugendlichen, ohne ihnen nachzuspionieren, im Blick? Und hat niemand die Sticker mit rechtem Inhalt bemerkt, die 2009 laut lokalen antifaschistischen Gruppen auch auf dem Schulgelände verklebt wurden?

Sehr gut hingegen die Analyse des Reporters über den Text des Songs, der nicht nur unverfänglich, sondern als Teil der rechten Ideologie des Zusammenhalts und der Bruderschaft ist – zwischen den Zeilen also ein Appell an die “deutsche Kampfgemeinschaft”, die so oft beschworen wird. Und den durch SWR 4 befragten Schülern sei die Zugehörigkeit Sleipnirs zur Extremen Rechten bewusst gewesen.

Audio-Kurzkommentar vom SWR, der ist hörenswert. Ansonsten sei der Vollständigkeit halber auf die Pressemitteilung der Schule und des Trägers [PDF] verwiesen, die keine neuen Erkenntnisse bringen und durch die bisherige Berichterstattung der großen Medien in ihrem Inhalt schon wiedergegeben wurde.

Update 15:

Eine weitere kritische Stimme mit Erfahrung von vor Ort: ein Ex-Schüler der KGS Kirchberg hat sich per Mail gemeldet und einen kurzen Einblick in die Problemlage vor Ort gegeben:

Ich denke, dass es kein Zufall war, dass es im Hunsrück zu so einem Zwischenfall kam. In den Städten der Verbandsgemeinden um Kirchberg leben verhältnismäßig viele Zugezogene. Auch aus dem Ausland. Da ist für Jugendliche keine Perspektive sich explizit nazistisch zu äußern. Dennoch gibt es soziale Probleme. In den umliegenden Dörfern dafür verschwindend wenige. Da ist es Alltagskultur, das die Dorfjugend sich in den “Backes” setzt und abends “Böhse Onkelz”, “Freiwild” oder Rechtsrock hört. Man kennt sich dort seit der Kindheit. Die Person, die das Video ins Internet gestellt hatte kam aus Gehlweiler, einem kleinen Dorf der VG-Kirchberg mit weniger als 300 Einwohndenen. Es ist das Problem, das überall in den ländlichen Bereichen vorherrscht. Eine kritische Jugendkultur gibt es nicht, und wenn doch wird sie gedeckelt, bis ihre Protagonist_innen sich entscheiden wegzuziehen. So geraten derartige Entwicklungen völlig aus dem Fokus. Eine klar antifaschistische Jugendkultur müsste mehr gefördert werden, damit Nazis nicht erst auffallen, wenn sie sich selbst in die Schlagzeilen singen.

Ach ja, und die Sendung Trackback wird mich heute Abend in meinem ersten Interview, dass ich in meinem Leben überhaupt führe, zu Gast haben. Ab 18 Uhr, Livestream auf der Seite. Ich hoffe, mein Rumgestottere hält sich in Grenzen und es kommt rüber, was ich inhaltlich betonen wollte.

Update 16:

Um etwas positiven Drive in die Sache zu bringen, habe ich mal eine kleine Aktion gestartet: Blogger-Aktion: NachDenken-Mixtape für Kirchberg. Würde mich freuen, wenn das einige Leute aufnehmen und sich beteiligen würden.

Dazu die totale Antihaltung, aber mal zum Nachdenken für die beteiligten kommunalen Strukturen, ein Lied, das es wie die Faust aufs Auge trifft. Man verzeihe den militanten Gestus.

Zuletzt geändert am 28.07.12 10:21 EST

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Sprachlos #1–Gutmensch https://www.meetinmontauk.de/2012/01/sprachlos-1gutmensch/ https://www.meetinmontauk.de/2012/01/sprachlos-1gutmensch/#comments Tue, 17 Jan 2012 15:25:41 +0000 https://www.meetinmontauk.de/?p=606

Aus aktuellem Anlass mache ich hier mal eine neue Mini-Reihe auf: “Sprachlos” beschäftigt sich mit dem Umgang mit Sprache, der historischen Relevanz von Ausdrücken und dem Gedankengut, was sich dahinter verbirgt. Mir selbst sind viele Umstände von Wortgeflechten und –kreationen, die ich im alltäglichen, aber auch im politischen Sprachgebrauch mir angeeignet habe, gar [...]]]> v8p9pm9h

Aus aktuellem Anlass mache ich hier mal eine neue Mini-Reihe auf: “Sprachlos” beschäftigt sich mit dem Umgang mit Sprache, der historischen Relevanz von Ausdrücken und dem Gedankengut, was sich dahinter verbirgt. Mir selbst sind viele Umstände von Wortgeflechten und –kreationen, die ich im alltäglichen, aber auch im politischen Sprachgebrauch mir angeeignet habe, gar nicht bewusst. Die Reihe soll dabei helfen, sich dieser Wortproblematiken bewusst zu werden und sie sich ggf. abzugewöhnen.

Gutmensch

Anfangen möchte ich die Reihe mit dem Wort “Gutmensch”. Bei mir hinterlässt das Wort schon etwas länger einen fahlen Beigeschmack, obwohl ich es immer gelegentlich verwendet habe, meistens um Menschen zu kritisieren, die sich der Konsumkritik (also der Veränderung von gesellschaftlichen Zuständen durch ein bewusstes Konsumverhalten) verschrieben haben. Sicherlich auch in anderen Kontexten. Trotzdem wurde mir dieses Wort in der letzten Zeit immer weniger geheuer, wurde es doch auch von irgendwelchen scheinlibertären FDP-Fatzken auf Seminaren verwendet, um Sozialpolitik etc. zu kritisieren. Auch geistert das Wort seit jeher durch Naziforen und taucht als Begriff in rechtsoffenen Kommentaren auf. Und wo es noch auftaucht: in ganz vielen linken und linksradikalen Diskussionen, meistens von den Vertretern von autoritären Systemen benutzt, um Kritik am Stalinismus oder anderen realsozialistischen Ausformungen abzubügeln.

Dabei sollte man das Wort einfach nicht mehr benutzen. Dazu möchte ich in dem Artikel einfach mal ein paar Zitate anführen, die die Problematik ganz gut wiedergeben. Da wäre zuerst einmal der “ZEIT Wörterbericht”:

Dass der »Gutmensch«, aus der politischen Rhetorik stammend, sich in der Alltagssprache niedergelassen hat, kann als Triumph antihumanistischen Denkens gelten. Die Häme über den guten Menschen beginnt bei Nietzsche, der Neologismus stammt aus dem Stürmer, Kampfbegriff ist er für die Neue Rechte, und salonfähig wurde er durch die 68er-Kritik im Stil von Klaus Bittermanns Wörterbuch des Gutmenschen. Die Verachtung, die das Wort ausdrückt, und die Geläufigkeit, mit der es verwendet wird, legen den Verdacht nahe: Als gut gilt jetzt ungut.

Die Nietzsche-Urheberschaft ist wohl umstritten, der Gedanke aber spätestens Mitte des 20. Jahrhunderts vom Naziregime zementiert. Jürgen Hoppe erläutert das in einem Memorandum des Deutschen Journalisten-Verbandes (DJV) [pdf] so:

Erstmals findet sich das Wort als Bezeichnung für die Anhänger von Kardinal Graf Galen, der gegen die Vernichtung lebensunwerten Lebens , also die Tötung körperlich und geistig Behinderter durch die Nationalsozialisten (schließlich mit Erfolg) gekämpft haben.

Nicht klar ist, ob der Begriff von Josef Göbbels oder Redakteuren des Stürmer 1941 ersonnen worden ist. Gutmensch geht auf das jiddische a gutt Mensch zurück, womit von den Nationalsozialisten auch ein Bezug zu den lebensunwerten Juden hergestellt werden sollte.

Adolf Hitler hat in seinen Reden und in Mein Kampf ebenfalls die Vorsilbe gut als abwertend verwendet. So sind für ihn gutmeinende und gutmütige Menschen diejenigen, die den Feinden des deutschen Volkes in die Hände spielen.

Freilich hat sich der Begriff längst dieses Umkreises enthoben und hat spätestens in den 90ern Einzug in den politischen Alltag gehalten. Diese Entwicklung ist jedoch keineswegs zu begrüßen, der politische Kampfbegriff, den “Gutmensch” darstellt, zielt auf eine Degradierung des Gegenübers, nicht des Arguments, ab – er wird also (naiv) moralisierend oder aber nur vorgeblich moralisierend dargestellt.

Festzuhalten bleibt, dass der Begriff “Gutmensch” für einen emanzipatorischen Sprachgebrauch aufgrund seiner problematischen Genese und seines persönlichen und nicht argumentativen Charakters nur selten und reflektiert in Frage kommen sollte.

Zur Vertiefung dazu aus österreichischer Sicht: Katrin Auer: “Political Correctness” – Ideologischer Code, Feindbild und Stigmawort der Rechten [pdf]

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Wer nicht tanzt, hat verloren https://www.meetinmontauk.de/2011/04/wer-nicht-tanzt-hat-verloren/ https://www.meetinmontauk.de/2011/04/wer-nicht-tanzt-hat-verloren/#comments Sat, 23 Apr 2011 08:37:14 +0000 https://www.meetinmontauk.de/2011/04/wer-nicht-tanzt-hat-verloren/

Für eine Beibehaltung des Tanzverbots hatten sich unter anderem die Kirchen ausgesprochen. Der Sprecher der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau, Roger Töpelmann, argumentierte, der Karfreitag mache auf Leiden in der Welt, wie in Fukushima und Libyen, aufmerksam. Dieser Gedanke vertrage sich nicht mit Ansichten, die “jedem Bürger zu jeder Zeit freie [...]]]>

Für eine Beibehaltung des Tanzverbots hatten sich unter anderem die Kirchen ausgesprochen. Der Sprecher der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau, Roger Töpelmann, argumentierte, der Karfreitag mache auf Leiden in der Welt, wie in Fukushima und Libyen, aufmerksam. Dieser Gedanke vertrage sich nicht mit Ansichten, die “jedem Bürger zu jeder Zeit freie Selbstverwirklichung zubilligen”. Der Fuldaer Bischof Heinz Josef Algermissen hatte es selbstverständlich genannt “dass die Ruhe an Karfreitag, einem der höchsten Feiertage der Christen, eingehalten wird”.

Ich habe das dumpfe Gefühl, die Leiden der Welt machen auf sich selbst aufmerksam. Jedenfalls Fukushima und Libyen. Der Rest geht eh unter. Worauf die Kirchen doch aufmerksam machen wollen: das Leiden ihres spirituellen Führers. Und das interessiert, mit Verlaub, doch niemanden mehr großartig. Was also die Kirche für selbstverständlich findet, kann mich mal kreuzweise – gerade wenn sie es mir mit staatlichen Verboten aufzwängen will. Die Verankerung vom Christentum in unserem ach so säkularen System ist doch echt zum Kotzen.

Musik angeworfen, die Fenster der Erdgeschosswohnung auf und vierzehn Stunden Karfreitags-Protest-Chillen mit der Couch auf dem Gehweg. Das ist Protest. un muss man auch fairerweise zugeben: in Berlin interessiert sich nicht mal die Staatsmacht für Feierverbote. Sonst würde hier auch die gesamte Wirtschaft zusammenbrechen. Hier wird einem auch erst am Donnerstag-Abend klar, dass es sowas wie Karfreitag gibt und deshalb die Supermärkte zu haben. Na toll, ein Hoch auf den Burger-Dream-Lieferdienst. Völlerei und Tanzen gegen Papst, Kirchen und Verbote.

[Artikel auf Spiegel Online | Bild via strassenstriche unter CC BY-NC]

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