Deportationsmahnmal S-Bhf. Westhafen / Berlin. Fotograf: plomlompom.

Der gestrige Tag war im Gedenken an den 9. November 1938 geprägt. In den Novemberporgromen wurden durch die Mehrheitsgesellschaft über 1400 Synagogen zerstört, dazu viele Jüd_innen ermordet, verschleppt und in KZ verbracht. Das Dritte Reich läutete damit den Auftakt zur sytematischen Vernichtung jüdischer Menschen ein. In einer beeindruckenden und bewegenden Gedenkveranstaltung gedachte man in der Jüdischen Gemeinde Berlin den Ereignissen, zusammen mit Holocaust-Überlebenden, Gemeindemitgliedern und politischen Würderträger_innen.

75 Jahre danach. Und nichts ist überwunden. Der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde, Dr. Gideon Joffe, bemerkte ganz richtig: es ist leicht zu sagen, der mörderische Antisemitismus ist ablehenswert. Ich bin dagegen, dass Synagogen brennen. Ich bin dagegen, dass Jüd_innen vergast werden. Ich bin dagegen, dass auf offener Straße Jüd_innen erschlagen werden. Aber. – Und dieses „Aber“ ist der zeitgenössische Antisemitismus. Israelkritik von „Links“. Die Verteufelung der Beschneidungspraxis – ein zentraler Bestandteil jüdischer Idenität. Rechte Verschwörungstheorien. Das Schimpfwort „Jude“ auf den Schulhöfen. Gesellschaftlicher Antisemitismus ist nicht überwunden. Jüd_innen fühlen sich – wohl leider zurecht – von den antisemitisischen Ausprägungen in der Gesellschaft bedroht.

Wir saßen da, wir nickten. Intellektuell ist das zu begreifen, wir begreifen uns als solidarisch, wir fühlen uns in die Pflicht genommen. Danach schütteln wir Hände, erkundigen uns nach dem Wohlbefinden. Diejenigen von uns, die politische Ämter wahrnehmen, erweitern ihre Netzwerke. Stehen in der ersten oder zweiten Reihe für die Fotos. Demonstrieren ihr intellektuelles Verständnis nach Außen. Danach: gepflegt Essen gehen, den Alltag wieder einkehren lassen. Gedenken für uns in zwei Stunden. Nicht unbedingt Pflicht, aber auch kein Teil unserer Lebensrealität. Anders als viele Mitglieder der Jüdischen Community in Berlin und weltweit, in denen die Berichte und Erzählungen aus der Pogromnacht ein fester Bestandteil der Familienhistorie und des kollektiven Wissens sind. Und selbstverständlich das, was der 9. November 1938 einleitete. Die Shoa.

Wir gehen also ins Restaurant. Treffen uns mit Freunden, sitzen den Abend über Bier und Schnaps, philosophieren und diskutieren parteipolitische Strategien. Der Alltag fängt uns ein. Irgendwann verabschieden wir uns, „War ein schöner Abend“, lass uns das wiederholen. Unbedacht. Wir fahren nach Hause, nie darum fürchtend, dass die Fensterscheiben zerstört, die Privatheit in Brand geraten, die Existenz nihiliert wurde. Teil unseres Privilegs. Ein letztes Mal vor dem Einschlafen Twitter aufgemacht, schauen, was der Freundeskreis so macht, ob es Nachrichten gibt. Und dann steht da „Die Synagoge in Fulda wird angezündet.“ – Ich stehe kerzengerade im Bett. Was geht da vor sich? Heute? An diesem Tag brennen Synagogen?

Ich lese weiter. Aus weiteren Orten werden brennende Synagogen gemeldet. Ich will mich anziehen. Müssen wir irgendwas in Berlin organisieren? Mein Hand liegt am Handy, bereit, Freund_innen anzurufen. Berichte trudeln ein, über zerstörte Scheiben, verschleppte Menschen. Und dann über Himmler, über die SA, über zusammengeschlagenen Menschen, über gestürmte Wohnungen. Im ganzen Bundesgebiet. Über Telegramme aus Frankreich. Alles kommt von einem Account, 9Nov38. Sein Titel: „Heute vor 75 Jahren.“ Mir wird bewusst, was ich da lese. Verantwortlich zeigen sich mehrere Historiker_innen, z.T. Studierende.

Moritz Hoffman, Leiter des Projekts, beschreibt die Idee wie folgt:

Wir betrachten nicht nur den 9. und 10. November, sondern seine unmittelbare Vorgeschichte und die ersten Nachwirkungen. Wir beschränken uns also nicht auf 24-36 Stunden, sondern wollen nachverfolgen, was vor exakt 75 Jahren passierte, tages- und möglichst auch uhrzeitgenau. Dabei müssen wir Kompromisse machen – nicht immer sind genaue Zeiten überliefert. In solchen Fällen achten wir auf Plausibilität, und wenn diese nicht herstellbar ist, müssen wir auf den speziellen Tweet verzichten.

Das Ganze ist ein Experiment, es ist eine Auslotung unserer Fähigkeiten zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit, weder verdienen wir Geld damit noch geben wir welches aus, wir hoffen auf Leserschaft und erwarten auch Kritik. Wer immer uns etwas mitteilen möchte, sei dazu gerne hier oder an jeder anderen Stelle aufgerufen. Und vorläufig ist es für uns auch in erster Linie spannend.

Mit mir erstarrt mein Twitterumfeld. Es ist kurz nach Mitternacht, und die Möglichkeit, die historischen Ereignisse so nah an sich heranzulassen, schlägt meine soziale Peer Group in seinen Bann, entsetzt, erschüttert. Die Nachrichten, die in der Spanne eines Menschenlebens entfernt sind, wurden nur durch Tweets unterbrochen, die die Gefühle der Lesenden beschreiben. Genug waren den Tränen nahe, viele verspürten Wut, das Bedürfnis, aufzuspringen, so wie ich. Dazu die Empfehlungen, dass jetzt jeder das Feiern sein lassen sollte, sich hinsetzen solle, und das verfolgen sollte. Schon allein aus der Maßgabe heraus, dass es nie wieder geschehe. Und so wurde aus dem individuellen Konsum ein kollektives Gedenken. Menschen schrieben, wie sie auf einer Couch im Club saßen und vergaßen, dass sie unterwegs waren. Aus der Gedenkminute wurde für viele eine Nacht des Gedenkens. Kaum jemand konnte schlafen gehen, kaum jemand konnte aufhören, gebannt zu lesen. Auch ich schaffte erst in den frühen Morgenstunden, das MacBook zuzuklappen und einige Stunden Schlaf zu fassen. Als ich aufwachte, habe ich mich erschrocken: was, wenn ich etwas wichtiges verpasst habe? Erneut wurde mir bewusst, wie dünn die Spanne zwischen zwei verschiedenen Epochen durch die Berichterstattung im Livebericht geworden war.

Gerade politisch aktive Menschen sind es gewohnt, sich über Demonstrationen und Aktionen über abonnierte Hashtags oder Ticker-Accounts auf dem Laufenden zu halten. Wir verfolgen mit, was passiert, wir empören uns über Naziangriffe, über Polizeigewalt, über rassistische Kontrollen. Das scheint auf einmal alles so klein zu sein. Durch die minütliche Aktualisierung der historischen Begebenheiten wird mir die Totalität der Pogrome vor Augen geführt. Es ist keine Demonstration in Hamburg, keine Parkrodung in Stuttgart, keine Besetzung in Berlin. Es ist der allumfassende antisemitische Hass, der sich überall in Deutschland am 9. November 1938 entladen hat. Die Berichterstattung lässt mich über Orte lesen, deren Namen ich nie zuvor gehört habe. Sie lässt mich Teilhaben an dem Schicksal von Menschen, deren Name sich nirgendwo eingebrannt hat. Und das immer wieder aufs Neue, ohne Ende, ohne dass das Entsetzen Zeit findet, nachzulassen. Die Unmittelbarheit lässt das initiale Gefühl immer wieder aufleben: das ist so nahe, das klingt so plausibel, es könnte jetzt passieren. Es war historisch singulär, aber es ist wiederholbar. Und ich begreife diesmal nicht nur intellektuell, was an diesem Tag vor 75 Jahren passiert ist.

Ich weiß nicht, welche Preise es für diese Medienform geben kann. Ich weiß nur, dass dieses Jahr dieses Projekt sie alle bekommen sollte.

 

2 Responses to Falling Leaves in November – Novemberpogrome und Gedenken.

  1. […] Falling Leaves in November – Novemberpogrome und Gedenken. Share this:TwitterFacebookGefällt mir:Gefällt mir Lade… […]

  2. […] entwickelte sich der Abend und … ich zitiere an dieser Stelle Meet in Montauk, der seine eigene Reaktion auf unsere Tweets in seinem Blog formulierte: “Wir gehen also ins […]

Schreib einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind markiert *