Die Frage um den Umgang mit Geflüchteten ist das entscheidende Thema der kommenden Jahre. In einer Zeit, in der per Notverordnungen der grundrechtliche Asylschutz auf ein Minimum reduziert, tödliche Krisenregionen zu „sicheren Herkunftsländern“ umgelabelt und das erste Mal seit über einem Jahrzehnt die Grenzen fest geschlossen werden, zeigt sich auch, dass es einen politisch weitestgehend unwidersprochenen Durchmarsch der deutschen Exklusionsleitkultur gibt. Sozialdemokraten taufen Transitzonen zu Registrierzentren um, Grüne biedern sich auf Kosten von Menschenleben bei der CDU an und die Linkspartei – tja, trotz einigen politisch tragfähigen Ansätzen steht in der Abgeordnetenriege jetzt eine Frau an der Spitze, die mit den Nazis von PEGIDA gerne ins Gespräch kommen will. Kein verlässlicher Partner, so scheint es, was Politik für (und ggf. auch von) Geflüchteten angeht.

Geflüchtete in Berlin und ihre Unterstützer_innen

Bundespolitik schön und gut mag man meinen, aber was hat das mit Berlin zu tun? In Berlin zeigen sich auf flüchtlingspolitischer Ebene gerade zwei zentrale Themen. Einerseits beklagen viele Helfer_innen-Initiativen die fehlende Unterstützung durch Regierungspolitik und Verwaltung – das Chaos vor dem LAGeSo, die Qualität der Unterkünfte, die langsame Reaktion der Öffnung der staatlichen Infrastruktur (wie z.B. die Beförderung im ÖPNV) und viele weitere Dinge. Die Helfer_innen begleiten Geflüchtete durch einen offenen, menschenfreundlichen und ordnungsgemäßen Prozess, sondern sie stapfen mit ihnen durch Schlamm, Hunger und Chaos. Das Drama um Mohamed, das Kleinkind, das vor dem LAGeSo entführt und getötet wurde, ist nicht nur ein schrecklicher Verlust für die Familie (die sich selber erst polizeilichen Anschuldigungen aufgrund ihres Flüchtlingsstatus ausgesetzt sah), sondern nahm auch viele der Helfer_innen mit in einen dunklen Ort, aus dem sich einige nur schwerlich wieder rauskämpfen können. Dieser Ort ist geprägt von Hilflosigkeit, Verzweifelung, Erschöpfung. Und das Entsetzen darüber, dass der mutmaßliche Täter seinerseits als vorgeblicher Spender das Gelände betrat und sein Opfer mitnahm.

Das zweite zentrale Thema ist ob der chaotischen Zustände der neu ankommenden Flüchtlinge über die letzten Monate in den Hintergrund gerückt, obwohl es jahrelang auf der stadtpolitischen Agenda stand: die politische Selbstvertretung von Geflüchteten. Der Kampf um bessere Bedingungen für Asylsuchende, für die Legalisierung der Illegalisierten, gegen das deutsche Unterbringungssystem in Massenunterkünften („Lagern“), gegen das Arbeitsverbot und – ganz simpel – für ein Bleiberecht fand seine Fixpunkte am Pariser Platz, am Oranienplatz, in der Ohlauer Schule. Mit einer Zermürbungstaktik haben der SPD/CDU-Senat und das grüne Bezirksamt diese Proteste niedergeschlagen, ihre Akteure deportiert und keine strukturellen Konsequenzen gezogen.

Die Ohnmacht überwinden!

Um die Helfer_innen aus der Ohmacht zu befreien, ihnen die Hilflosigkeit zu nehmen, braucht es eine starke politische Vertretung ihrer Interessen im Abgeordnetenhaus. Und Geflüchtete selbst müssen in die Landespolitik: als Menschen mit Fluchterfahrung, die passives Wahlrecht in Berlin haben, oder über Umwege, als Referent_innen von Abgeordneteten. Um Geflüchteten und Helfer_innen eine Stimme zu geben, müssen sie als politische Akteure in das Abgeordnetenhaus einziehen.

2016 sollte in der Berlin-Wahl eine „Refugees Welcome“-Bündnis antreten!

Taktische Überlegungen

2016 könnte es zu einer Neuauflage eines linken Regierungsbündnisses zwischen SPD, Linkspartei und vielleicht auch den Grünen kommen. Das lässt CDU und eventuell auch ihre Brüder im Geiste von der AfD in der Opposition. Eine denkbar ungünstige Position für flüchtlingspolitische Themen in den kommenden Jahren: insbesondere die Linken haben die chaotischen Zustände in Registrierung und Unterbringung durch die Verschleppung und schlechter Organisierung bis 2011 mit zu verantworten. Wer sich über Czaja empört, darf von Bluhm nicht schweigen. Unter der linken Sozialsenatorin wurde die dezentrale Unterbringung aufgegeben und nur unter Widerstand sich dem steigenden Unterbringungsbedarf von Geflüchteten angenommen. Eine Neuauflage von schweigender Flüchtlingspolitik in Regierungsverantwortung, während CDU und AfD sich in menschenhassenden Parolen in der Opposition überbieten werden? Kein Versprechen für eine vernünftige Entwicklung in Berlin. Es braucht eine kräftige Stimme in der Opposition, die Politik für und mit Geflüchteten einfordert.

Sich nur einem Thema zu widmen ist zwar selten eine kluge Idee – in diesem Fall aber erfolgsversprechend und angebracht. Einerseits, weil dieses eine Thema – Geflüchtete als Berliner_innen in Berlin – sich auf sämtliche Fachressorts erstreckt: Sozial- und Innenpolitik als offensichtlichste; Teilhabe-, Arbeits-, Bildungspolitik für die Lebensorganisierung derjenigen, die in Berlin dann auch tatsächlich untergebracht werden, Stadtentwicklungspolitik zur Schaffung von neuem Wohnraum für Geflüchtete, um die dezentrale Unterbringung voranzubringen, Bürgerschaftliches Engagment für Helfer_innen und ihre Arbeitsumstände; Forschung und Technologie zur Förderung von innovativen Ideen, die in den Köpfen der geflüchteten Menschen über das Mittelmeer reisten, Wirtschaft als Fachgebiet für eine offene Unternehmenskultur und die Kontrolle der privaten Firmengeflechte. „Flucht nach Berlin“ ist ein allumfassendes Thema, das abertausende Menschen und Netzwerke repräsentiert. Die Liste der sich stellenden Aufgaben aus der Opposition heraus abzuarbeiten wird alle Zeit beanspruchen, die ein kleines Team aus Halbtagsabgeordnet_innen leisten kann. Für viele andere Themen wird kaum Zeit sein. Ein Ein-Themen-Wahlbündnis ist deswegen die ehrliche und richtige Entscheidung.

Bleibt noch die Überlegung über die Zersplitterung von Wähler_innen-Potential in einem linken Berlin. In meinen Betrachtungen über die Orientierung nach dem Absturz der Piraten empfahl ich im April noch:

[G]egen die Gefahr, die von der AfD und dem rassistischen Mob auch in Berlin ausgehen wird, ist eine starke linke Bewegung notwendig, die in ihren Aktivitätsbereichen mit möglichst wenig Reibungsverlusten zusammenarbeitet, um eine konsequente und kraftvolle Gegenbewegung zu jeder rechten Einflussnahme zu bieten. Es wäre fatal, sollten Potentiale der parlamentarischen linken Parteien zersplittern und an der 5%-Hürde scheitern und damit das Ergebnis schwächen.

Ich bin allerdings der festen Überzeugung, dass das Eintreten für und mit Geflüchteten in Berlin ein Potenial deutlich über der 5%-Marke hat, wenn man es denn überzeugend einwirbt. Die Solidarität ist in Berlin vielleicht nicht so massiv sichtbar wie in Frankfurt, wo tausende Menschen einmal am Zug stehen und winken, oder in Hamburg, wo sich Spendenorganisierung in riesigen Hallen zentriert hat.  Sie ist aber schon seit Jahren vorhanden, vor allem lokal verankert und praktisch-zupackend. Die vielen Hilfsinitiaitven, der durchgehend auf hohem Niveau arbeitende Flüchtlingsrat, die Selbstvertretung über Migrations- und Flüchtlingsbeiräte – vieles musste sich in Berlin nicht neu gründen. Die Solidarität unter Berliner_innen ist nicht zu unterschätzen.

Und sie wird durch diejenigen ergänzte die in den (neu)rechten Wendungen von Grünen und Piraten sich nicht mehr vertreten sehen und denen die Linkspartei zu dogmatisch ist. Sie werden durch ein solches Wahlbündnis nicht unbedingt in der Gesamtheit ihrer politischen Vorstellungen repräsentiert. Aber ein ihnen besonders wichtiges Thema fände damit Eingang in die Landespolitik und ist eine bedeutende Option gegenüber einer ungültigen oder verschenkten Stimme. Natürlich ist auch hier konstante Überzeugungsarbeit notwendig.

Und jetzt schnell …

Grundsätzlich arbeitet das Thema eines solchen Wahlbündnisses für sich selber und kann wettmachen, dass wir bereits mitten im Wahlkampf sind. Aber dennoch: für eine Gründung ist noch viel zu tun, die partizipierenden Träger_innen des Bündnisses müssen sich treffen, sich verständigen. Qualifizierte Menschen müssen sich finden, die eine Landesliste antreten wollen. Es sollte ein Konzept entwickelt werden, Geflüchteten und Menschen mit Fluchterfahrungen eine tragende Rolle im Organisationsprozess zukommen zu lassen und ihnen über die kommenden Jahre die Mitarbeit im Abgeordnetenhaus zu gewährleisten. Auf Einzelheiten kann ich nicht eingehen, auch weil ein solcher Prozess eine eigene Dynamik entwickeln muss, um den an ihm teilhabenden Menschen gerecht zu werden. Eine Blaupause für ein erfolgreiches Wahlbündnis gibt es nicht.

Geflüchtete, Unterstützer_innen, Intiativen, Moabit-Hellerdorf-usw-Hilft dieser Stadt: setzt euch zusammen, kommt ins Gespräch, organisiert euch und macht die Gründe für eure und meine Ohnmacht zur politischen Agenda. Bietet der alltäglichen Hetze in Abgeordnetenhaus und auf der Straße ein starkes Gegengewicht. Auf in den Wahlkampf!

Wenn der Zug schon abgefahren ist, besser nicht alleine dastehen.  (Foto: Uwe Steinert | Lizenz: CC BY-NC 2.0)

Wenn der Zug schon abgefahren ist, besser nicht alleine dastehen.
(Foto: Uwe Steinert | Lizenz: CC BY-NC 2.0)

 

Disclaimer: Ich bin weder Parteimitglied der Piraten noch der Linken. Der Artikel richtet sich vor allem an ausgetretene Pirat_innen oder solche, die sich für die kommende Wahl aufgrund des Parteizustandes nicht mehr engagieren wollen. Weitere Gedanken zur Positionierung einiger Pirat_innen in der (radikalen) linken Bewegung vgl. auch den Artikel vom 12. März 2014.

Der Sommer 2015 trägt die ersten Blüten des Wahlkampfes für die Berlin-Wahl 2016. In den nächsten Monaten werden Wahlkreise vergeben, Listen aufgestellt, Programme erarbeitet. Und wenn diejenigen, die 2011 und danach für orange-emanzipative Politik angetreten sind, diese auf dem parlamentarischen Weg fortführen wollen, dann ist es jetzt an der Zeit, die geeigneten Partner_innen zu suchen. Denn mit den Piraten wird es – trotz in einigen Bereichen beeindruckender Oppositionsarbeit im AGH – aller Voraussicht nach keinen anknüpfenden Wahlerfolg geben, der den Sprung über die 5%-Hürde ermöglicht.

Diese Entwicklung wird niemanden überraschen, der sich mit dem innerparteilichen Zustand der Piraten in den letzten 2 Jahren beschäftigt hat. Ihren Höhepunkt fand diese Entwicklung im Bundesverband der Piraten zum außerordentlichen Bundesparteitag in Halle, wo der Parteirechten nach taktischen Manövern die Übernahme des Vorstandes gelang. Der emanzipative Teil der Partei zog sich daraufhin in eine eigene Organisierungsform zurück. Es bleibt jedoch zu konstatieren: der Plattformansatz der Piraten ist weitestgehend fehlgeschlagen. Die Progressiven Plattform der Piraten hat zwar Parteilinke sammeln können (und sich auch durch die Geschlossenheit vor dem rüden Umgangston innerhalb der Partei schützen können), aber ein gestalterisches Moment blieb wohl aus; nach Außen ist sie nicht wahrnehmbar und bietet keine politische Alternative zum dominierenden Bundesvorstand.

Kaum im Fokus steht der Berliner Landesverband, welcher selbst eine Art organisatorische Plattform in Abgrenzung zur aktuellen Bundesparteiführung vollzieht. Während die Politik vor allem über die Fraktion läuft, scheint die Basis sich verlaufen und erschöpft zu haben. Die vom Bundesvorstand ausgegebene Parole der Fokussierung auf die Kernthemen kann – selbst wenn man sie als legitim betrachten würde – in Berlin keinen Erfolg haben: die wahrnehmbaren Probleme der Stadt liegen hier in ganz anderen Bereichen: seien es die komplett unterfinanzierten (Bezirks-)Verwaltungen, seien es die kostspieligen Bauprojekte und sie begleitende Korruption, sei es die Aufnahme von geflüchteten Neuberliner_innen. Unter Schwarz-Rot haben wir zwar im vereinigten Berlin einen (den ersten?) Überschusshaushalt gehabt, aber dafür eine komplett heruntergewirtschaftete Stadt bekommen. Wähler_innen kümmern sich nicht um die IT-Infrastruktur der Schulen, wenn ihre Kinder nur unter Ekel die Klos benutzen können. Netzpolitik und Digitalisierungsagenden werden keines dieser Probleme auch nur symptomatisch lösen können.

2011 sind die Piraten unter anderem als implizite Konkurrenz zur abstürzenden Linkspartei in den Wahlkampf gegangen. Die Probleme von 2010/2011 innerhalb der LINKEN können sicherlich Menschen, die in der Partei organisiert sind, besser zusammenfassen (und über – ggf. publizierbare – Anmerkungen dahingehend würde ich mich freuen), mein damaliger Eindruck war vor allem die K-Diskussion: dogmatischer Kommunismus als Gesellschaftsideal wurde genauso vertreten, wie ein durchgehend unkritischer Bezug auf die staatssozialistische Umsetzung durch die SED. Mauertote wurden gerechtfertigt und der Bundesvorstand agierte zumindest symbolisch in konsequenter Fortführung zur SED-Alltagspolitik. Diesem dogmatische Plakativsozialismus stand die z.T. linksradikale Ausrichtung der überdrehten und naiven Piraten gegenüber, die am Ende vielleicht auf die gleiche Politik hinauswollten, aber dabei mit einer emotional überzeugenderen Rechtfertigung daherkamen. Und: im Gegensatz zu der LINKEN hatten sie einen Vertrauensvorschuss, während die LINKE ihr Vertrauen durch den schwachen Politikstil gegenüber der SPD in der Landesregierung 2002 – 2011 weitestgehend verspielt hatte. Nicht zuletzt waren die Wähler_innen der Piraten 2011 vor allem eines: links!

Aber in den letzten Jahren ist viel passiert. Die damals ins Abgeordnetenhaus gewählten Piraten haben mehrheitlich ihre Naivität abgelegt (mit unterschiedlichen Ergebnissen) und bilden insbesondere zusammen mit der Linksfraktion eine treibende und kritische Opposition, ab und an ergänzt durch die Bündnis-Grünen, die sich nur allzuoft im wahltaktischen Flirt sowohl mit SPD als auch CDU befinden. Aber auch die LINKEN haben sich parteiintern weiterentwickelt. Progressive Kräfte (das ist in der Linken übrigens der „rechte“ Flügel) haben sich an zentralen Positionen eingearbeitet, sind vernetzt und verjüngen die Partei deutlich. Während sich die Partei auf Bundesebene schwertut, durch die Bundestagsfraktion ein tiefer Riss geht und die Antisemitismus-Frage weiterhin jede politische Ambition tief verdunkelt, steht der Landesverband weitestgehend stabil da. Und das macht sich auch an den Umfragewerten bemerkbar, die sich nach einem kurzen Hoch von 18% gerade bei 15% einpendeln. Und der Wahlkampf hat gerade erst begonnen …

Mit einem undogmatischen, linken bis linksradikalen Verständnis von Stadtpolitik kann man, so von der Seite der Linken aus Interesse besteht (auf Bezirksebene ist dies bereits regelmäßig der Fall), diesen Modernisierungsprozess unterstützen. Und während man sich bei den Piraten vom Teilaspekt der digitalen Teilhabe den Gesamtaspekt gesellschaftliche Teilhabe mühsam ableiten musste (und dabei ganz offensichtlich einen nicht unbedeutenden Teil im Denkprozess verloren hat), ist bei den LINKEN das Gesamte schon umrissen: es geht um die „Entwicklung einer demokratisch-sozialistischen Gesellschaft“.

Es ist klar: an vielen Stellen ist Überzeugungsarbeit und Auseinandersetzung notwendig: dort, wo die Worte „sozialistisch“ und „demokratisch“ ausgefüllt werden müssen; dort, wo sich Dogma gegen Freigeist stellt; dort, wo analoge Führungsstrukturen auf digitales Floating zwischen alle Organisationsstrukturen stoßen. Viele parteidemokratische Errungenschaften, die besonders Parteimitglieder der Piraten lieb gewonnen haben, werden grundlegend in Frage gestellt werden, müssen neu erkämpft werden. Gleichzeitig bietet sich die Chance auf einen effektiven Neuanfang: mit arbeitsfähigen Strukturen, einem weit entwickeltem Programm und erfahrenen Basis- und Kommunalaktivist_innen.

Die LINKE gewinnt dabei Menschen, die das Parteiprofil signifikant erweitern können; die mit einem tiefen Verständnis von digitalen Grund- und Menschenrechten, von effizienten Verwaltungsstrukturen durch digitale Prozesse (und ihre transparente Abbildung), von nachhaltiger Inklusionspolitik, von modernen Machtverhältnissen und Strategien gegen die ihr innewohnenden Diskriminierungen, von Stärkung einer fairen (Nicht-nur-IT-)Wirtschaft (und den dem entgegenstehenden Problemen wie z.B. prekäre Arbeitsbedingungen) und einer frechen und fordernden Innenpolitik punkten. Diese Aktivist_innen genießen das (Rest-)Vertrauen derer, die nicht im Fokus der klassischen und klassenkampfbasierten Linken stehen, aber trotzdem das Herz am schönsten, moralischen Fleck haben. Und sie sind hungrig danach, sich einbringen zu können. Alles, was es erfordert, ist die Öffnung: der Partei und der Köpfe.

In diesem Zusammenhang besteht für die LINKE in Berlin in Handlungsbedarf. 2016 kann die Linke keinen reinen Oppositionswahlkampf machen, sondern muss sich als solide Alternative zu Schwarz-Rot oder Schwarz-Grün (vielleicht sogar Schwarz-Braun?) präsentieren, um gestalterische Aufgaben in Berlin zu übernehmen. Sie muss sich die Frage gefallen lassen, ob sich ihre Politik in der vergangenen Regierungsverantwortung von 2002 bis 2011 konsequent und links genug äußerte. Gerade in den zentralen Themen muss dabei eine konsequente Aufarbeitung nach Außen erfolgen: welche Versäumnisse und strukturellen Defizite gab es z.B. in der Flüchtlingspolitik der Stadt unter Beteiligung der Linken? Und was soll diesmal anders gemacht werden? Vielleicht wäre das auch eine gute Frage der Partei an die emanzipativen Aktivist_innen dieser Stadt, die Parlamentarismus nicht grundlegend ablehnen: wenn die Linke in Regierungsverantwortung gelangt, welche Programmpunkte kann sie preisgeben, welche sind die Schwerpunkte, die durchkommen sollten? Was muss sich grundlegend ändern? Und wo kann ich mich einbringen, um diesen Prozess zu begleiten, zu beeinflussen?

Der systematische Wechsel von Aktivist_innen der Piraten und ihres Umfeldes erscheint mir ein im Hinblick auf die anstehenden Wahlen wünschenswert und für beide Seiten stärkend zu sein. Der Zeitpunkt ist passend, führt die Diskussion darüber in den Parteien und Arbeitsgruppen. Eine Mitarbeit beim Wahlprogramm kann moderne Akzente setzen. Die Listen können strategisch ergänzt, die Kommunalpolitik mit neuen Impulsen verstärkt und schon begonnen Zusammenarbeiten fortgeführt und intensiviert werden.

Und nicht zuletzt: gegen die Gefahr, die von der AfD und dem rassistischen Mob auch in Berlin ausgehen wird, ist eine starke linke Bewegung notwendig, die in ihren Aktivitätsbereichen mit möglichst wenig Reibungsverlusten zusammenarbeitet, um eine konsequente und kraftvolle Gegenbewegung zu jeder rechten Einflussnahme zu bieten. Es wäre fatal, sollten Potentiale der parlamentarischen linken Parteien zersplittern und an der 5%-Hürde scheitern und damit das Ergebnis schwächen.

 
Manifestation de solidarité pour Charlie Hebdo à Berlin

Thierry Chervel: „Manifestation de solidarité pour Charlie Hebdo à Berlin“ (CC BY-NC 2.0)

Während die Welt in lautstarker Schockstarre um die Exekution von zwölf Menschen – darunter nahezu die gesamte Redaktion von Charlie Hebdo und Polizist_innen – verharrt, bemüht sich die deutsche Linke vor allem um nichtssagendes Schweigen. Dabei ist das  Magazin ist aus einem anarchistischen Verleger_innen-Projekt hervorgegangen und stand immer wieder an der Seite der französischen Linken und Linksradikalen und nimmt einen wichtigen Platz in der Historie der französischen Linken ein.

Das skizzierte Ende des guten Geschmacks?

Artikel, die Grausamkeit der Karikaturen von Charlie Hebdo betonen, haben in der kritischen Community gerade Aufwind. Das Projekt wird, weitab jeder differenzierten Betrachtung, als anti-emanzipatorisch gekennzeichnet, als ein Magazin, dass keiner politischer Unterstützung Bedarf. Ja, sich mit den Opfern solidarisieren. Aber nein, nicht mit dem Magazin, nicht also auch mit dem politischen Gehalt der Karikaturen und der Inhalte der Publizistik. Das zeugt nicht nur von dem Unverständnis der Pariser Denktradition der Satire.

It is directed, rather, against authority in general, against hierarchy and against the presumption that any individual or group has exclusive possession of the truth.

Sich alleinig mit den Opfern zu solidarisieren, heißt nun gerade auch, eine politische Dimension des Falles bewusst auszublenden. Das Massaker galt eben nicht nur den Redakteur_innen des Magazins. Es galt dem Magazin, es galt der linken Publizistik! Es galt der Religions- und Fundamentalismuskritik, die sich gleichermaßen in alle Richtungen der Bevormundung wandte – und dafür in der Vergangenheit gleichermaßen durch die französische Extreme Rechte genauso wie von Islamisten genauso wie von radikalklerikalen Organisationen angegriffen wurde. Es galt auch der Form der Satire, dem Ausdruck von  „bête et méchant“. Es galt der Freiheit, zu beleidigen, es galt der Freiheit, das Wohlbefinden der Lebenslügen der Menschen mit den Füßen zu treten.

Und einer verantwortungsvollen Linken kommt zu, genau diese freiheitliche Perspektive, die weit über den bürgerlichen Begriff „Presse- und Meinungsfreiheit“ hinausgeht, zu thematisieren. In seiner Geschichte war das Magazin immer wieder von den Zensur- und Verbotsbestrebungen der französischen Regierung betroffen. Auch das wird in dem aktuellen Diskurs immer wieder unterschlagen. Das Magazin war unbequem, allen, immer wieder. Wer den Finger in die Wunde legt, in aller Regelmäßigkeit, hat am Ende kaum noch Freunde. Um so heuchlerischer sind einige Stimmen derjenigen, die sich gerade mit dem Magazin solidarisieren und einen Angriff auf die „westliche Wertegemeinschaft“ darin sehen.

Missbrauch durch Rassist_innen und Arschlöcher

Aufzuzeigen, dass das Massaker an den Träger_innen linker Publizistik missbraucht wird, und zwar von denjenigen, die noch am Montag in Dresden „Lügenpresse“ riefen und in Berlin Journalist_innen in aller Regelmäßigkeit attackieren. Von denjenigen, die gegen „Charlie Hebdo“ noch vor wenigen Monaten prozessierten, um unangenehme Karikaturen zu zensieren. Sie sehen die Bestätigung ihrer rassistischen Thesen und fordern lautstark ein, dass ihre Solidarität nun also auch eine Art Weckruf des Endkampfes gegen den Islam in Europa zu sehen sein – und schüren damit das Feuer. Schon gestern Nacht litten Muslime in Frankreich unter rassistischen Angriffen auf ihre Gebetshäuser und Heimstätten.

Und während sich viele der großen Medienhäuser in den letzten Wochen fragten, was PEGIDA so stark gemacht hat, reduzieren die Publizistik von Charlie Hebdo auf islamismuskritische Zeichnungen und pflastern damit die Titelseiten. Ein angemessenes Gedenken sieht anders aus – es wird dem gedacht, wofür die Redakteure sterben mussten, nicht dem, wofür sie gelebt haben. Es stützt die rassistischen Vorurteile der bürgerlichen Mitte genauso wie es diejenigen in die Irre führt, die darin eine angebliche antimuslimische und rassistische Kampagne von Charlie Hebdo sehen wollen, die, die sich entsolidarisieren und sagen „Ich trauere ja mit den Opfern, aber …“ Und es verzerrt die Realität. Charlie Hebdo war eine Beleidigung für jedermann. Mutig ist nicht, sich an der gesellschaftlichen Pogromstimmung gegen Muslime zu beteiligen. Mutig ist es, am Tag danach die Karikatur abzudrucken, in der Gott und Jesus, mit Verlaub gesagt, es miteinander treiben. Das wäre mutig. Und das wäre auch Charlie Hebdo

Würdevolles Gedenken

Valentina Calà: "Je_suis_Charlie-25" (CC BY-SA 2.0)

Valentina Calà: „Je_suis_Charlie-25“ (CC BY-SA 2.0)

Es kommt also einer linken Publizistik die Aufgabe zu, ein würdevolles Gedenken an den Geist und das Lebenswerk von allen, die „Charlie Hebdo“ gestalteten,  zu organisieren. Die Solidarität muss nicht ohne Bedingungen sein, sie muss nicht unkritisch sein. Aber sie muss erkennbar sein und einen eigenen Schwerpunkt setzen. Klar machen, warum die Satire des Magazins über die bürgerliche Pressefreiheit hinausging. In welcher Tradition diese Form der französischen Satire steht, das man stolz drauf ist, bête et méchant zu sein.

Und natürlich muss sich dieses Gedenken stark machen gegen eine Vereinnahmung von Rassist_innen. Das schafft man vor allem dadurch, dass man eine starke und nachdrückliche Position zu dem bezieht, wofür Charlie Hebdo stand.

Hebt die Stifte.

 
CC BY 2.0 - by n74jrw (https://www.flickr.com/photos/n74jrw/2696782803)

CC BY 2.0 – by n74jrw (https://www.flickr.com/photos/n74jrw/2696782803)

 

Ich habe vor den meisten meiner Bekannten angefangen, mich mit Twitter zu beschäftigen. Zum Jahresanfang 2009 habe ich meinen ersten Tweet geschrieben. Über 5 Jahre meines Lebens sind in 140-Zeichen-Texten dokumentiert, so ich nicht einzelne Tweets aus guten oder weniger guten Gründen gelöscht habe oder den Account zu bestimmten Zeiten in meinem Leben als „geschütztes“ Profil betrieben habe, zu dem nur einige ausgewählte Personen Zugriff hatten.

Man merkt deutlich: das deutsche Twitter und das amerikanische oder weltweite unterscheiden sich enorm. Im deutschsprachigen Raum sind sehr viele Accounts in irgendeiner Form in die Parteipolitik der Piraten eingebunden, die aktiven Nutzer_innen mit Piratenpartei-Hintergrund sind so präsent dabei, dass selbst Accounts von politischen Organisationen im direkten Gespräch im Dunstkreis der Piraten landen. Das kann nett sein, denn die Partei ist sehr heterogen und von Aktivist_innen verschiedenster sozialer Bewegungen betrieben. Aber im letzten Jahr wurde das Klima immer rauer, zusammen mit dem Rechtsruck der Piraten. Selbst die Filtereinstellungen halfen nicht, sich dem zu entziehen, wenn man – wie ich – auch ein politisches oder berufliches Interesse an der Partei hatte, war man da voll mit drin. Abstrakte politische Diskussionen wurden schnell persönlich, in diesen Kreisen endet vieles beim Anwalt oder vor dem Gericht.

Die Default-Einstellung von Twitter ist der öffentliche Tweet. Wenn man seinen Account nicht auf geschützt gestellt hat, werden alle Nachrichten, die man so raussendet, öffentlich abrufbar, z.B. über Suchmaschinen wie Google & Co., die darauf verweisen. Im Optimalfall weiß man das, wenn man sich anmeldet und hat das im Hinterkopf. Aber auch wenn nicht, ist das eigentlich nicht schlimm. Diese Öffentlichkeit hat viele interessante Vorteile: anstatt in einer geschlossenen Gruppe mich zu einem Thema zu äußern und erwartungsgemäße Rückmeldungen zurückbekomme, wird durch einen Kommentar in der Öffentlichkeit dieser auch einem gesamten Diskurs zugänglich, kann durch öffentliche Antworten auf die Probe gestellt oder durch bisher unbekannte Menschen ergänzt werden. Dadurch findet man Zugang zu Menschen, die ähnliche Interessenlagen haben, aber nicht unbedingt den sozialen Auswahlkriterien eines Freundeskreises entsprechen würden. Man findet schnelle Hilfe durch eine Community, findet eine Menge an (z.B. verlinkten) Informationen zu aktuellen Themen. Man kann auch über z.B. die Form des „Tickerns“, also der Liveberichterstattung eines Events, durch die Öffentlichkeit Informationen an eine unbestimmte Anzahl an Menschen vermitteln, die aus vielen getickterten Nachrichten z.B. darüber entscheiden, wie sie sich auf Demonstrationen oder Blockaden verhalten. Öffentlichkeit ist eine tolle Sache, wenn sie ohne Angst und in Freiheit ausgeübt werden kann.

In den letzten Stunden verbreitete sich die Nachricht, dass ein Mitglied der Piraten unter der Flagge einer Parteistruktur (der „Zuse-Crew“) systematisch Twitter-Accounts erfässt und eine Text- und Screenshot-Datenbank anlegt. Dabei speichert er einerseits Tweets von Accounts, die sich zu bestimmten Themen äußern (z.B. Antifa oder innere Debatten der Piraten), andererseits erfasst er als „targets“ markierte Accounts im Volltext und speichert jeden (!) ihrer Tweets ab. Wer mit diesen targeted accounts Kontakt hat, wird schnell selber zum Ziel. Es wird sich dabei nicht auf eine innerparteiliche Datenbank beschränkt, sondern auch Innenpolitiker anderer Parteien und Journalist_innen der jungle world und der Frankfurter Rundschau werden als targeted accounts komplett erfasst. Wer sich auf Twitter antifaschistisch und antirassistisch äußert, wird  Ziel dieser gezielten Überwachung, jede öffentliche Äußerung wird zu Zwecken der „Gerichtsverwertbarkeit“ aufgezeichnet, auch wenn man sie einige Minuten später wieder löscht oder seinen Account auf „Geschützt“ stellt.

Aus dem massenhaften Scannen wird also per Wortfilter und markierten Personen eine Zieldatenbank erstellt, um aus dem Big-Data-Wust die für den rechten Piraten relevanten Tweets herauszufiltern und sie zur Weiterverwendung durch andere Organisationen und Personen, die ein Interesse an antifaschistisch aktiven Personen haben, zur Verfügung zu stellen. Klingt nach dem Vorgehen der NSA. Nicht nur so unterscheidet sich diese Datenbank massiv von Indexierungen durch andere Suchmaschinen: sie ist gerade darauf ausgelegt, auch durch den Nutzer gelöschte Inhalte weiterhin verfügbar zu halten; auch ein nachträgliches „Schützen“ des Accounts hilft nicht. Indexes wie Google reinigen in regelmäßigen Abständen ihre Datenbank von gelöschten oder geschützten Tweets; hier ist das schon per Definition nicht vorgesehen. Ob das rechtlich zulässig ist, wird sich zeigen.

Mein Twitter-Account steht auch auf dieser Liste. Bisher bin ich davon ausgegangen, dass ich – wenn ich z.B. merke, dass ich mit einer Äußerung unsicher fühle – selbst kontrollieren kann, wie lange sie der Öffentlichkeit zur Verfügung steht. Wenn ich ein Problem mit Indexierung durch große Firmen habe, kann ich den Klageweg beschreiten, sollten Anfragen auf Löschung nicht weiterhelfen. Diese Kontrolle wird mir genommen, von jemanden, der mich als politischen Feind sieht, auf seiner Feindesliste einsortiert und darüber schwadroniert, dass er bei diesen Feinden die Köpfe aufgespießt sehen will. Klageweg bringt nicht viel, da der Mensch schon in Grund und Boden geklagt wurde. Anonymisierungsversuche helfen nur bedingt, da nach eigener Aussage des Betreibers soziale Profile erstellt werden sollen und die Verknüpfungen der Accounts untereinander analysiert werden sollen. Das kann auch Erfolg haben. Hinzu kommt ein soziales Umfeld in der Zusecrew, dass linke Aktivist_innen auf Demonstrationen per Gesichtserkennungssoftware selber scannen will. Eine Anti-Antifa ohne feste Ideologie, aber „mit Spaß am Gerät“, sozusagen.

Ich habe inzwischen Angst. So viel, dass ich vor jedem Tweet überlege, ob ich das jetzt schreibe oder ob mir das in irgendeiner Situation meines Lebens auf die Füße fallen könnte. Wenn ich Menschen folgen will, überlege ich vorher, ob sie auch in dieser Liste landen können und ob es ihnen schadet. Ob es Klagen gleich hagelt, oder ob sich Neonazis an diese Suchmaschine setzen und versuchen, anhand inzwischen gelöschter Informationen mich und mein Umfeld zu bedrohen. Und wenn ich Angst habe, nicht nur um mich, sondern auch um zufällige Menschen, die Kontakt mit mir haben; dann habe keine Kontrolle mehr und traue mich nicht mehr, Dinge so zu sagen, wie ich sie sagen will und vielleicht auch muss. Was die NSA in ihrer Abstraktheit nicht schafft, schafft ein einzelner Pirat in der Konkretheit seines Hasses.

Deswegen werde ich meinen deutschsprachigen Twitter-Account am Sonntag, 13.7.2014, abstellen.

Es waren schöne fünf Jahre, und ich freue mich über die knapp 600 Menschen, die an meinen Nachrichten Interesse hatten und vielen Dank an die wunderbaren Kommentare, Streits, an die wertvollen Hinweise. Und natürlich an all jene, die jeden Tag meine Timeline mit interessanten oder kurzweiligen Dingen gefüllt haben. In so einer Situation und in so einer Atmosphäre bleibt nur, sich zurückzuziehen. Auf Facebook. Oder in das gute alte IRC. Oder halt Jabber. Die geschlossenen Threema-Gruppen. Vielleicht werde ich etwas mehr bloggen. Vielleicht probiere ich auch Diaspora nochmal aus, oder Twister. Vielleicht habt ihr auch noch Empfehlungen für geschützte Kanäle, wo man wieder mehr Gefühl der Kontrolle hat. Ich freue mich auf eure Nachrichten, Freundes- oder Jabberanfragen. We should stay in contact and organize!

Jabber: [email protected]
Mailmeetinmontauk – ## ät ## – die-genossen.de

 
Veranstaltungflyer "Captain Snowden"

Veranstaltungflyer „Captain Snowden“

Der Verein „Helle Panke“ – Mitglied im Stiftungsverbund der Rosa-Luxemburg-Stiftung – lud am 8. Mai 2014 in das Astra in Berlin-Friedrichshain, um mit Gregor Gysi und Hans-Christian Ströbele unter Moderation von Constanze Kurz über Snowden und Geheimdienste zu reden.

Die Veranstaltung war gut besucht, schon draußen bildete sich eine lange Schlange vor dem Einlass und bei Beginn war dann die Bestuhlung komplett ausgenutzt – zumindest im alternativen Friedrichshain, Hochburg der Netzaktivist_innen, scheint die NSA-Affäre also durchaus die Gemüter zu bewegen, auch wenn es heißt, dass „die Öffentlichkeit“ weitestgehend interesselos sich gegenüber der Ausspähung verhält.

Constanze Kurz, Vertreterin des Chaos Computer Clubs, stellte eingangs die Frage nach dem aktuellen Stand der parlamentarischen Aufarbeitung der NSA-Affäre. Hans-Christian Ströbele, MdB für die GRÜNEN und direkt gewählter Abgeordneter für einen Wahlkreis in Friedrichshain und Kreuzberg, referierte sodann über die Ausschussarbeit im NSA-Untersuchungsausschuss, beginnend mit der Neuigkeit, dass Snowden in diesem Ausschuss befragt werden solle. Wie und wann sei aber noch Verhandlungssache. Im Folgenden sprang das Gespräch zwischen lustigen Anekdoten, die sich aus der Skurrilität der geheimdienstlichen Arbeit in aller Regelmäßigkeit ergaben, zu juristischen Details (nicht unwichtig, aber dem Diskussionsgegenstand auch nicht zwangsläufig dienlich) und letztendlich zur weitestgehend unisono geäußerten Kritik, dass die Bundesregierung handlungsunfähig verbleibt.

Die Positionen, die Ströbele und Gysi äußerten, waren zwar sehr nah einander, entstanden aber aus unterschiedlichen Voraussetzungen: während Ströbele als Fachpolitiker aus dem entsprechenden Ausschuss und mit dem parlamentarischen Schwerpunkt der Geheimdienstkontrolle berichtete, trat Gregor Gysi (MdB für DIE LINKE) eher als breit aufgestellter Populist auf, dessen Redebeiträge weniger die Genauigkeit, als die rhetorische Wirkung im Auge hatten – entsprechend oft lachte das Publikum mit ihm.

Ströbele ließ immer wieder durchblicken, was er für Eindrücke aus dem persönlichen Gespräch mit dem Whistleblower Snowden mitgenommen hatte (so sei Snowden z.B. „treuer US-Bürger“, der politisch seinen russischen Gastgeber_innen eher kritisch gegenüber stände). All dies ließ die Veranstaltung von seinen Redebeiträgen aber auch als sehr personenbezogen geprägt dastehen, es ging weniger um die Inhalte, die Snowden der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt hatte, sondern mehr um einen – für jede politische Beurteilung ungesunden – Personenkult um das persönliche Engagement. Wir kennen diese negativen Auswirkungen schon von Assange und Wikileaks, und wie der 30C3 gezeigt hat, verursacht dieser Personenkult auch weiterhin Furore (mit dem wichtigen Unterschied, dass Snowden und Assange jeweils selbst damit weitestgehend konträr umgehen).

Allerdings ließ dieses persönliche Moment auch eine wichtige Schlussfolgerung auf Kurz zentrale Frage über das „Best Case Scenario“ für einen „Geheimdienstumgang nach Snowden“ zu: für Ströbele war eine Konsequenz aus der NSA-Affäre, die Position von Whisteblowern zu stärken. Wie konkret das für Mitarbeiter von staatlichen Institutionen funktionieren soll, deren Geheimhaltungsvorschriften das Kernelement ihrer Tätigkeit (geheimdienstliche Arbeit) garantieren, blieb unbeantwortet. Weitestgehend abstrakt blieb auch die von beiden Parlamentariern  vorgetragene Forderung nach weiteren und umsetzbareren Kontrollrechten durch das Parlament gegenüber den Behörden. Bei Gysi bot das den Spannungsbogen auch darüber nachzudenken, ob die Geheimdienste nicht komplett abgeschafft werden sollten.

Das große Fazit des Abends jedoch war bei Gysi, dass die Bundesregierung „Duckmäusertum“ an den Tag legen würde und das sich die USA gegenüber Deutschland nicht freundschaftlich verhalten würde. Diese Argumentationsstrategie (übrigens waren die Redebeiträge Gysis weitestgehend wortwörtliche Versatzstücke der Bundestagsrede vom 18. November 2013) spitzte er dann über die ganze Veranstaltung weiter zu und versetzte sie mit dem großen Schlagwort der „Nationalen Souveränität“. Um dem recht links geprägten Publikum eventuelle Kritik aus den Segeln zu nehmen, führte er dabei an, dass es ja durchaus eine historische Grundlage für die USA und UK geben würde, kritisch die deutsche Regierung seit ’49 zu beobachten. Aber immerhin würde man ja in Afghanistan zusammen im Krieg sein und damit wären wir Freunde und Freunde späht man nicht aus. Aber das Publikum brauchte das gar nicht, frenetischer Jubel an diesem Abend erntete sein Spruch: „Niemand unter uns, … aber auch niemand über uns!

Der Abend hat eindrucksvoll gezeigt, wie die populistische Rhetorik von Gregor Gysi hier als effektive Flankierung der Querfrontstrategie dient: viele Argumentationsmuster findet man in den neurechten Verschwörungstheorien wieder. Schon das Infrage-Stellen und die Forderung der Rückkehr der „Nationalen Souveränität“ ist ein Bild, das sich in allen rechten Parteien, von CDU/CSU über AfD bis hin zur neonazistischen NPD finden lässt, mit unterschiedlichen Bezugspunkten, häufig die EU. In verschiedenen Verschwörungstheorien gibt es als Steigerung des Gedanken aufgrund verschiedener absurder rechtlicher Konstruktionen den deutschen Staat nicht mehr, sondern man würde durch USA und Israel fremdgesteuert – willkommen im strukturellen Antisemitismus. Man kann im Übrigen beobachten, dass gerade neurechte Bewegungen wie die Montagsdemonstrationen von der Thematik NSA profitieren und viele Menschen darüber mit ins Boot holen (satirisch durch Extra3 und Aluhüte aufbereitet). In den Bewegungen rechts der CDU spielt das Thema NSA durchaus eine große Rolle, anders als linke Bewegungen können sie dabei aber nicht auf die Ergebnisse kontinuierlicher parlamentarischer Arbeit(sweisen) zurückgreifen – und die CDU wird ihnen aus guten Gründen nicht zuarbeiten, sondern hält sich lieber bedeckt.

Interessant ist auch die querfrontlerische Umgebung, mit der sich Gysi – mit Rückendeckung seiner Partei – auf kritische Nachfrage zur Anschlussfähigkeit seiner Thesen zur AfD gibt: er halte ja nichts von der AfD („Rassismus und so“), und vielmehr stehe er zu Europa, er möchte nur „Völker … also ein Europa der Bevölkerung“. Die Formulierung weckt spontane Assoziationen an das „Europa der Völker“. Eine kurze Google-Suche ergibt: ein Beitrag der Website der Linkspartei „Für ein Europa der Völker und nicht der Banken“ – und ansonsten Beiträge, die direkt von der NPD unter dem Titel „Ein Europa der Völker“ oder „Ein Europa der Vaterländer“ kommen. So sieht Querfront aus, wenn sie von der Parteispitze kommt: immer gekonnt knapp am Formulierungs-GAU vorbeirutschen, aber die Assoziationen populistisch zielgerichtet ansprechen.

Gysis Ablehnung der berechtigten Einschränkung der Souveränität Deutschlands simplifiziert dabei auch unzulässig: dass deutsches Großmachtsstreben nicht kritisch überwacht werden kann, weil man gemeinsam Kriege führen würde (keinesfalls im Übrigen gleichberechtigt und freundschaftlich, wie Gysi suggeriert), ist kein zwangsläufig logischer Schluss. Oder um in der Einfachheit von Gysis Worten darauf eine Replik zu liefern: „Halte deine Freunde nahe, aber deine Feinde noch näher.“

Und so muss sich eine kritische Betrachtung dieser Argumentationsstrategie fragen:

1. Ist eine geheimdienstliche Überwachung der deutschen Regierung und der deutschen Bevölkerung durch die USA durchweg abzulehnen oder ergeben sich aus der deutschen Geschichte und dem deutschen Großmachtstreben seit 1990 Ansatzpunkte für ein (fortgesetztes) Misstrauensverhältnis, das Eingriffe in die nationale Souveränität rechtfertigen kann?

2. Wie erwehrt sich eine emanzipatorische netzpolitische Betrachtung einer antiamerikanischen Vereinnahmung durch neurechte Kräfte, die nationalistische und revanchistische Bewegungen und antisemitische Feindbilder durch die NSA-Thematik stärken wollen?

3. Wie sieht eine emanzipatorische Perspektive gegen Überwachung aus, die sich kritisch staatlicher Mittel bedient oder gar ganz auf solche verzichtet? Wie kann die linke parlamentarische Facharbeit durch außerparlamentarische Aktivität in fruchtvolle Wechselbeziehung treten.

Wie schon erwähnte, merkte man bei Ströbele, der auf etwas unverdächtigere Art und Weise das Verhalten der deutschen Regierung gegenüber den USA kritisierte und damit auch ohne Populismus an der von Gysi geforderten „Veränderung des Zeitgeist“ mitwirkte, dass er fachlich deutlich näher am Thema war und weniger als Vertreter seiner Partei auf dem Podium zu Gast war, sondern als Experte mit jahrelanger Erfahrung in der geheimdienstkritischen Arbeit. Gefehlt hat mir dabei eine Stellungnahme, ob und wie die innerparteiliche Aufarbeitung der grünen Regierungsverantwortung zum Thema NSA erfolgte. Einige Grüne dürften da zwar kein genaues Wissen, durchaus aber spannende Einblicke gehabt haben. Gleichzeitig hätte von beiden Vertretern von Parteien, die an Landesregierungen beteiligt sind, Stellungnahmen zur gestaltenden Verantwortungsübernahme gegenüber den Landesämtern für Verfassungsschutz unter dem Aspekt NSA kommen können – das hätte eine spannende Aufbereitung der Arbeit der Opposition im Bund und der lokalen Gestaltung in den Ländern sein können.  Leider versäumte man es aber auch so, eine gesamtgesellschaftliche Perspektive aufzumachen und sich kritisch dem Thema Geheimdienste genauer zu nähern.

Das blieb den Abend über das große Manko: zu viel Snowden-Heldentum, zu wenig Geheimdienst-Kritik. Und die bittere Erkenntnis in der Betrachtung des Publikums, dass die Veränderung des Zeitgeistes sich über die letzten Monate in den europäischen Rechtsruck einbinden lassen hatte und auch links geprägter Nationalismus wieder hoch im Kurs steht.

Nachtrag: Das ging schnell, die RLS hat die Veranstaltung als Videoaufzeichnung zur Verfügung gestellt.

 
CC-BY: Tobias M. Eckrich

CC-BY: Tobias M. Eckrich

Während in der Twitterwelt der Richtungskampf der Piratenpartei tobt – und er ab und an auch milde von den Medien belächelt wird – lassen tiefgreifende Analysen zur Frage der radikalen Linken innerhalb der Piraten auf sich warten. Nun mag man einwerfen, dass tiefgreifende Analysen in diesem Umfeld eh eher rar sind und gerade der bürgerliche Teil der Partei, nun, sagen wir mal, eigenwillige Auslegungen von historischen Begebenheiten, Demokratiekonzepten und Verfassungstreue hat. Moment, der bürgerliche Teil der Piratenpartei? Sind denn Parteien als Ganzes nicht schon bürgerlich?

Es fällt zudem in der aktuellen Lage schwer, treffsichere Bezeichnungen für die Konfliktparteien zu finden. Linksradikal vs. Sozialliberal? Stalinisten vs. Holocaustleugner? Emanzipativ vs. Reaktionär? Irgendwas-mit-Befreiung vs. Kernthemen? 2011 vs. 2009?  Während ich den Artikel schreibe, merke ich, dass es kaum statistische Daten gibt, kaum parteiinterne Umfragen, kaum wissenschaftliche Evaluationen, wie die Piratenpartei aufgebaut ist. Die einzige Sache, die die Piraten offiziell auseinander zu dividieren scheint, ist die Frage, ob der Mitgliedsbeitrag gezahlt wurde.

Ein Blick in die Parteirealität

Während der schwer zu fassende Konflikt über die Gesinnungsausrichtung der Partei sich in seiner vollen Breite in den Instrumenten der Piraten-Subkultur entfaltet (Twitter-Hashtags wie #bombergate, Voice-Chat-Server und für die hartgesottenen: Mailinglisten), ist er nach außen deutlich ruhiger wahrnehmbar: das Parteiprogramm ist größtenteils mit undogmatischen linken Positionen versehen, der aktuelle Bundesvorstand hat sich auf dem Wahlparteitag gegen rechte Kandidaten weitestgehend durchgesetzt. Die parlamentarische Arbeit hat auf der Berliner Landesebene zu (erneut: undogmatisch) linken Ergebnissen geführt, ohne sich dabei (ver-)handlungsunfähig zu machen. Es ist zwar nicht alles Sonnenschein, aber die politische Arbeit der Partei repräsentiert vornehmlich eine undogmatisch, akademisch geprägte Linke und grenzt sich damit zu den bürgerlichen Grünen genauso ab wie zur „volksverbundenen“ Linkspartei, wobei sie in vielen Feldern mit letzterer trotzdem besonders gut zusammenarbeiten kann.

Wenn man also Twitter und Mumble ausschaltet und die Kommentarspalten von Blogs nicht mehr liest, dann ist der Richtungsstreit ein laues Lüftchen, das die realpolitische Arbeit umschmeichelt.

… und trotzdem Revolution?

Und während viele derer, die sich selbst als radikale Linke bezeichnen, in diese Arbeit eingebunden sind, distanzieren sie sich gleichzeitig von ihr und fahren einen verbalradikalen Kurs, der mit Revolutionsrhethrik und Antifa-AllTimes-Sprüchen gekleistert ist. Auf Parteitagen werden Fahnen entkontextualisiert und für den Parteibetrieb missbraucht – dass dahinter eine soziale Bewegung steht, deren Teilhabern das Kotzen kommt, und sie diese bürgerliche Aneignung (und Parteien als Instrument einer bürgerlichen Gesellschaft sind jetzt keine neue Analyse) wahrnehmen, wird unter Einforderung von Solidarität schlichtweg ignoriert. Gleichzeitig ist man überrascht, wenn in einer bürgerlichen Plattform wie einer Partei dann auch bürgerlicher Gegenwind entsteht. Aber es geht um die Raumnahme, die Positionierung, die Abgrenzung – so scheint es zumindest. Nur die Raumnahme welchen Raumes? Die Positionierung, die warum erforderlich ist? Und die Abgrenzung wovon?

Dazu kommen Funktionsträger, die mit plakativen linksradikalen Statements immer wieder die bürgerlichen Medien reizen, ohne dabei tatsächlich ihrer Funktion angemessene politische Inhalte zu vermitteln (das meint: Landespolitiker, die sich plakativ über EU-Politik äußern, tun das halt nicht in ihrer Funktion als Landespolitiker – werden aber als solche wahrgenommen …) – das kann man mal machen, aber wenn man immer wieder dadurch auffällt, dann zeigt man wenig Gespür für politische Arbeit. Um linksradikale Inhalte über Parlamente in die Realpolitik zu übertragen, ist es oft klüger, unter dem Anschein einer affirmativen Handlung (z.B. ein fraktionsübergreifender Antrag) ein Thema gezielt zu besetzen und dieser Besetzung eine Legitimation zu geben, anstatt mit Pauken und Trompete eine Initiative zu verkünden, weil sie der Revolution dienlich wäre – davon bleibt am Ende außer Spott der bürgerlichen Medien nicht viel. Den einzigen Aspekt, den man der plakativen Aufmerksamkeit abgewinnen kann, ist, dass er die Leuten, die sich im Hintergrund halten und tatsächliche Umsetzung von Inhalten machen, aus dem Fokus nimmt.

Ich sehe keine ideengerechte Ausgestaltung, keine Beantwortung der Fragen: was wollen wir mit der Partei als gesellschaftliche Plattform für linke Inhalte erreichen? Welche Strategie haben wir, wie schützen wir uns vor bürgerlicher Vereinnahmung? Und wo schaffen wir Anknüpfungspunkte an außerparlamentarische soziale Bewegungen? Anstatt sich Gedanken zu machen – und diese auch auszuformulieren – was eine radikale Linke und Piraten verbindet und was sie trennt, gibt es eine Orientierungslosigkeit, die mit Parolen und Lifestyle-Habitus überspielt wird. Dabei täte ein Konzept den radikalen Linken, die sich in der Partei organisiert haben, ganz gut. Unverbindlich mal ein paar Fahnen schwenken und auf Demos gehen, medienwirksame Aktionen bringen und mal wieder starke Sätze sagen, die aufgrund der Parteiposition auch zielsicher abgedruckt werden, das provoziert und bestätigt das Ego. Einen politischen Mehrwert hat es aber in den seltensten Fällen.

Konzepte der parteilichen Organisierung

Dieser Beitrag kann dieses Konzept nicht ausarbeiten, in Ermangelung der Organisierung des Autors in der Partei und Unwillen der Umsetzung. Aber er kann Diskussionspunkte aufmachen. Der Blick rüber zur Linkspartei, seit jeher auch Organisationsfeld einer radikalen Linken, die über parteiliche Mittel in die Gesellschaft wirken will, zeigt, dass es kleinere und größere Plattformen gibt. Die trotzkistische Marx21-Plattform z.B., eine der größeren Sammelpunkte für kommunistische Ideenfindung und ihr Transport in die politische Praxis. Oder die emanzipatorische Linke, eine Plattform, die oft mit beißender und zielgenauer Kritik mit moderner linksradikaler Theorie die Politik der Linkspartei analysiert und verändern will. Ihnen gemein ist, dass sie nur wenig nach außen wahrnehmbar sind: die Plattformen wirken vor allem auf parteiinterne Prozesse ein und hüten sich oft davor, die Partei nach außen in Misskredit zu bringen, indem sie die gesellschaftlichen Spielregeln, die für Parteien gelten, verletzen – eine Schwächung der Partei durch ihre Aktionen bedeutet – und das müssen linke Piraten noch lernen – auch eine Schwächung der internen Wirkungsmacht. Die Arbeit dieser Plattformen ist geprägt von hoher Eigenbildung und theoretischer Analytik, gleichwohl: ihr Effekt ist selten richtungsbestimmend.

Man merkt aber auch schon eine Dissonanz zur Struktur der Piratenpartei: interne Organisierung und Wirkung? Wenig Öffentlichkeit? Darauf sind die subkulturellen Mittel der Piraten gar nicht ausgerichtet, es geht immer wieder um Transparenz. Und es geht um Selbstdarstellung, eine Unterordnung in einer Plattformorganisierung ist bei vielen individuellen Piraten kaum vorstellbar, weil ihre Persönlichkeit sich eher expressiv ist und die Aufmerksamkeit der Gesellschaft (oder die von Twitter) vor der Vermittlung von Inhalten steht. Analytische Blogposts  haben halt wenig Retweets, „Katzen & Kommunismus“ lassen aber die Massen jubeln und die Hater haten.

Denjenigen, die sich als radikale Linke in einer weniger expressiven und dafür mehr wirkenden Weise in der Piratenpartei organisieren wollen, die sollten sich eine verbindliche Organisierung in Plattformen mal genauer anschauen und mit den Genoss_innen der entsprechenden Plattform in der Linkspartei mal Kontakt aufnehmen, um nach Starthilfe zu fragen.

Daneben steht das postenorientierte Wirken in Vorfeldorganisationen wie Parteistiftungen (Vereinen / Think Tanks, wie ich schon geschrieben habe)  oder Jugendorganisationen als Möglichkeit der parteinahen und -beeinflussenden Organisierung. Die Vorteile liegen hier in der Ausdifferenzierung zur eigentlichen Partei, ohne den innerparteilichen Wirkungsgrad wesentlich zu schmälern. Die Posten sind oft wenig oder gar nicht politisch konnotiert und unterliegen damit auch nicht den Spielregeln der parlamentarischen Politik. Während „Ich kämpfe für den Kommunismus“ von einem Parlamentarier medial als Entgleisung aufgenommen wird, wird der gleiche Satz durch einen Institutsmitarbeiter kaum Neuigkeitswert für den Berliner Kurier haben. Auch bei Jugendverbänden gehen die Medien mit mehr Nachsicht ran, sind sie schon durch die Junge Union deutlich mehr Entgleisung gewohnt. Gleichzeitig bietet die Organisierung in Vorfeldorganisationen einen wichtigen Punkt für Vernetzung und Theoriearbeit an, der auch der eigenen Organisierung als radikale Linke hilft, zu entscheiden in welchen Themen man sich z.B. wie einbringen will, wo die Grenzen der Partei sind und inwieweit man sich an gesellschaftlichen Kämpfen beteiligen wird. Und während die Piratenpartei durch viele soziale Bewegungen inzwischen wieder mit hoher Skepsis gesehen wird, schaffen es Vorfeldorganisationen regelmäßig, eine enge Zusammenarbeit und hohe Vernetzung herzustellen.

Auch hier sei auf das Beispiel der Strukturen der Linkspartei verwiesen: die Rosa-Luxemburg-Stiftung hat ein großes Bildungs- und Begabtenförderungsprogramm, das insbesondere junge Menschen auf die Herausforderungen der politischen Praxis vorbereitet und ihnen die Möglichkeit gibt, sich vorab zu organisieren und Fähigkeiten für den Politikalltag aufzubauen. Gleichzeitig sorgt sie mit ihren Veranstaltungen für eine kontinuierliche Weiterbildung der Parteimitglieder und der Vernetzung mit externen Interessent_innen.

„Sind wir hier überhaupt richtig?“

Und dann gibt es da noch linksradikale Piraten, die mich vor Rätsel stellen. Ihr Gestus entspricht eher so den Autonomen der 80er Jahre: weg mit der K-Gruppen-Theorie, Studenten sind eh Schweine und hier, äh, das mit der Politik der Ersten Person. Häuser besetzen, Staat auseinandernehmen, Riots – warum, darüber reden wir später! Linke Vorbildung kommt aus den Kneipengesprächen mit dem Freundeskreis und ein paar Youtube-Videos über Genua und Rostock.

Warum sie sich in einer Partei organisiert haben, kann ich mir nicht erklären – es gibt wenig mehr Affirmatives für den bürgerlichen Staats als die Parteiendemokratie. Vielleicht ist ihr Verhalten ja nur vorgeschoben, und es verbirgt sich eine fundierte Staatskritik und eine ausdifferenzierte Gesellschaftskritik dahinter – verpackt in einfache Parolen. Das fände ich großartig, könnte es doch auch den Weg in eine befreite Gesellschaft ergeben – aber warum dann in einer Partei?

Der Literat Zelik formulierte in seinem Text „Fast eine Liebeserklärung“ die typischen Argumente, die aus der Sicht einer radikalen Linken gegen Parteipolitik sprechen:

Berufspolitik und Parlamentarismus sind außerdem von institutionellen Assimilationskräften geprägt, die gesellschaftlicher Emanzipation diametral entgegenwirken. Hauptberufliche Repräsentation schafft bei Funktionsträgern, zumindest tendenziell, ein ökonomisches Interesse an der Aufrechterhaltung bestehender Politikformen. Der Soziologe Robert Michels hat das Anfang des 20. Jahrhunderts in einer Studie über die Vorkriegs-SPD postuliert: Führungsgruppen, die aus einer einfachen Arbeitsteilung entstehen, entwickeln eigene Macht- und Klientelkalküle. Die »Entfernung der Politik von den WählerInnen«, über die heute so laut lamentiert wird, ist dem bürgerlich-parlamentarischen System deshalb logisch eingeschrieben. Am Ende transformieren nicht die Reformer das System, sondern das System die Veränderer. Die Geschichte der Grünen sollte in dieser Hinsicht stets mahnendes Beispiel sein.

Allgemein ist der gesamte Text ein lesenwertes Stück zum Spannungsfeld eines linken Aktivisten zwischen Anspruch zur Gegenhegemonie und der Wirkungsmacht der Parteien. Aber was ist die Alternative, in einer Gesellschaft, die so systematisch und umfassend auf Parteienpolitik fußt? Die Gruppe Avanti führt 2010 aus:

Thomas Seibert schlägt vor, das Verhältnis von sozialen Bewegungen, außerparlamentarischer und parlamentarischer Linken nicht harmonisierend, sondern „unvermeidlich konfliktiv“ (ak 547) zu denken, nämlich so, dass die Akteurinnen und Akteure „getrennt bleiben, je ihrer eigenen Logik folgen – und sich trotzdem aufeinander abstimmen“. (ak 548) Das klingt wie die Fortsetzung des richtigen und von uns explizit geteilten Konzepts der „strategischen Bündnisorientierung“, nach dem Bündnisse und Koalitionen mit AkteurInnen sowohl der radikalen wie der moderaten Linken nicht nur notgedrungen und auf Zeit geschlossen werden sollten, sondern die Dauerhaftigkeit und die bewusste Bejahung dieser Bündnisorientierung die Voraussetzungen für die Schaffung gesellschaftlicher Gegenmacht sind.

Wir haben uns nicht beliebig oder zufällig für das Projekt der linksradikalen Organisierung entschieden. Der ausschlaggebende Unterschied bleibt das Bekenntnis zur Notwendigkeit des Bruchs mit dem Kapitalismus und seiner – in welcher Form auch immer vollzogenen – revolutionären Überwindung. Das ist keine Frage des Modus, sondern der Analyse.

„Machtfrage“ muss für die radikale Linke immer bedeuten, reale Gegenmacht aufzubauen, um die ökonomische und politische Macht des Kapitals zu brechen. Dazu gehört zu allererst, diese Gegenmacht nicht mit Regierungsmacht zu verwechseln. Denn die Macht des Kapitals ist ja ebenfalls nicht von der konkreten Parteienzusammensetzung der nächsten Bundesregierung abhängig.

Es gibt viele dieser Texte. Je nachdem, wo man sich in der radikalen Linken verortet, schlägt man bei ums Ganze! oder der Interventionistischen Linken oder bei NaO nach. Oder man geht in den Buchladen seines Vertrauens und blättert durch ältere Interim-Ausgaben. Theorietexte zum Spannungsfeld der parteilichen Organisierung, des linksradikalen Aktivismus und der staatszerschlagenden autonomen Bewegung gibt es inzwischen einige. Was linke Piraten machen müssen: sie lesen. Sie begreifen. Sie diskutieren, sie für gut oder schlecht finden und eine Replik darauf finden. Und dann müssen sie vielleicht auch einfach aus der Partei austreten und sich neu organisieren.

Hoffnungslose Fälle

Wer dann am Ende übrig bleiben wird, ist der Mensch, der seine eigene Profilierung vor seine politischen Überzeugungen stellt. Der einen autonomen, rebellischen Gestus vor sich herträgt, ohne sich auch nur im Mindesten von linken Inhalten und Werten beeindrucken zu lassen und sie als Plattform für seine Individualität missbraucht. Hier muss auch eine solidarische Linke klare Absagen erteilen: kollektive Organisierung hat wenig Platz für Egofilme, vielmehr wird sie durch diese Menschen in ihrer Essenz bedroht und es drohen neue Hegemonien. Wirkungsvolle Gegenkonzepte zu entwickeln und eine kritische Begleitung des Aufbaus einer Plattform in der Partei oder des Ausstiegs und Neuorganisierung, das muss eine der Hauptaufgaben einer selbstbewussten radikalen Linken bei den Piraten sein.

 
April 1964 by Jeremy J. Shapiro // CC-BY-SA-3.0

April 1964 by Jeremy J. Shapiro // CC-BY-SA-3.0

Wir sind umgeben von Machtverhältnissen, die uns in Beziehung zueinander setzen und unsere Positionen in der Gesellschaft definieren: werden wir als Männer oder Frauen wahrgenommen, als heteronormativ oder mit anderen sexuellen und amourösen Präferenzen, als weiße Deutsche oder als person of color. Oft erkennen wir das, versuchen uns gegen diese Machtverhältnisse zu positionieren und haben individuelle Re-Positionierungen, um innerhalb einer Welt, die uns oft zum Verzweifeln bringt, unseren Platz zu finden.

Dabei sind wir enorm abhängig davon, was dieses „Ich“ in der Gesellschaft, und die Gesellschaft an sich überhaupt bedeutet.  Einige Vertreter der Kritischen Theorie haben ein mal mehr, mal weniger entmutigendes Bild darüber gezeichnet, wo das Individuum in einer Gesellschaft scheinbar ohne immanente Widersprüche steht und welche Handlungsmöglichkeiten für die einzelnen oder organisierten Menschen bestehen, den Weg in eine befreite Gesellschaft zu bereiten. 

Bei vielen Menschen ist es bereits eine Unverschämtheit, wenn sie Ich sagen. – Adorno, Minima Moralia, S. 55

Der Literaturkreis soll über ein Jahr sich mit den wichtigsten Werken der Kritischen Theorie in Bezug auf das Thema „Individuum und Gesellschaft“ beschäftigen. Der Literaturkreis soll offen gestaltet werden. Menschen, die sich schon mit den Themen beschäftigt haben mögen ihr Wissen an Einsteiger_innen vermitteln und sich an der kritisch-reflexiven Diskussion bereichern.

Wenn ihr Lust habt, euch zusammen mit anderen Menschen und in lebhaften Diskussion mit der Literatur zu beschäftigen, schreibt mir doch eine Mail an meetinmontauk – ## ät ## – die-genossen.de – dann bekommt ihr eine Einladung mit verbindlichem Ort zur Einführungsveranstaltung. Kosten fallen keine an, Literatur sollte es an den entsprechenden Bibliotheken geben.

Das ist kein Universitätskurs. Man bekommt hier keine Creditpoints. Das ist der Versuch einer unabhängigen Organisierung von interessierten Einzelpersonen.

Einführungsveranstaltung:
Datum: 14. Februar 2014
Zeit: 17:00 Uhr
Ort: Berlin-Friedrichshain (tba)

 

30C3 Artwork by Evelyn Schubert is licensed under a Creative Commons Attribution-ShareAlike 3.0 Unported License. Based on a work at http://evelynschubert.com/30C3/wallpaper/.

Nachdem der Chaos Communication Congress schon in den letzten Jahren immer wieder in feministischer und anti-sexistischer Kritik stand, entzündet sich am 30C3 der Konflikt schon durch die Auswahl von Julian Assange als Speaker im Vorfeld. Zusammen mit Jacob Applebaum wird Julian Assange über eine Liveschaltung auf dem Kongress einen Vortrag halten. Einen unter vielen, als ein Vortragender unter vielen. Mit exponierterer, aber nicht zentraler Position. Die Debatte darum, ob man mit Assange einem Vergewaltiger die Bühne geben dürfe, wird dabei in aller Härte und mit festgefahrenen Fronten geführt. Dabei wurde eine feministische Perspektive schon ausreichend, zum Teil unter expliziter Aufarbeitung der Vergewaltigungshandlungen durch Assange, erläutert. Assange als Speaker auf die Bühne zu schalten ist ein Affront gegen feministische und kritische Teilnehmer_innen, es ist eine klare Positionierung in dem Diskurs um sexistische Hegemonie auf dem Kongress (nämlich eine, die diese Hegemonie stützt) und damit ist der Vortragende unter den Vortragenden ein Politikum.

Schon unter diesen Gesichtspunkten ist klar, wie tief und erbittert der Diskurs geführt wird – und wie weit er symbolhaft für eine Fragmentierung und Ausdifferenzierung einer Hacker_innen-Bewegung mit emanzipatorischem Anspruch ist. Gleichzeitig kratzt es nur an der Oberfläche eines viel tiefgreifenderen Diskurses, der aber aufzeigt, dass die Speakerposition von Assange nur logische Folge einer Bewegungsausrichtung ist, die bisher weitestgehend kritiklos im Raum stand.

Cui Bono?

Die Kritik an Assange lässt in meinen Augen aber auch eine wichtige, sehr grundsätzlich Frage vermissen: cui bono? Auffällig ist nämlich, dass Assange nicht eine spannenden Vortrag über „The Rise And Fall Of Wikileaks“ hält, oder ähnlich szeneimmanente bedeutende Vorträge. Sein Vortrag heißt schlicht: „Sysadmins of the world, unite!„, die Ankünding verliert sich in Allgemeinplätzen wie „We must realize the power and responsibility we hold for the great structural problems of our time.“ – ahja. Und das ist ein Punkt, der besonders schmerzt. In der Abwägung zwischen „Assanges Auftritt verletzt Menschen und führt dazu, dass sie nicht am Kongress teilnehmen“ und „Da ist eine große öffentliche Bedeutung in seinem Vortrag“ scheint man nach sehr seltsamen Kriterien vorzugehen, weil das Vortragsthema ein beliebiges und zahnloses ist.

Die Bühne, die man Assange gegeben hat, leidet enorm unter der Belanglosigkeit der lecture. Wo viele Menschen sicher weniger Bauchschmerzen haben würden, wäre eine kritische Auseinandersetzung damit, was Wikileaks und der kleine, elitäre Kreis darum eigentlich ist, und mit welcher Legitimation und Unterstützung sie so handeln, wie sie es tun. Die Frage danach, warum die USA als Primärziel im Raum stehen, der globale Norden als Sekundärziel und autoritäre Regierungen als Verbündete von Wikileaks gefeiert werden? Warum man Verschwörungstheoretiker_innen diese Macht gibt? Ein Podium darüber, welche grundsätzliche Bedeutung Wikileaks hatte, und gleichzeitig, wo sie grundsätzlich gescheitert sind. Ein Podium darüber, warum die Organisationsstruktur sich für die politische Rechtfertigung von Assange, sich den Vergewaltigungsvorwürfen zu entziehen, benutzen lässt, und Kritiker_innen oder als „Verräter_innen“ abgestempelte Menschen öffentlich (über Twitter & Co.) angreift. Warum Wikileaks, statt an der globalen politischen Bedeutung zu wachsen, eine starke und selbstbewusste Hacker_innen-Bewegung auf lange Zeit nachhaltig beschädigt hat. Hätte sich Assange so einem Podium stellen müssen, wäre die Bereitschaft sicherlich größer gewesen, ihm diesen hinterfragenden Platz einzuräumen.

Was aber bei vielen die bohrende Frage ist: warum gibt man dem Vergewaltiger Assange ein Podium – und dann noch für belanglosen Nonsens? Durch diese krampfhafte Banalität wird der Eindruck erweckt, Assange wäre ein normaler Teil einer Community, die mit sich selbst im Reinen ist. Die forcierte subkulturelle, aber nichtsdestotrotz gesellschaftlich relevante Rehabilitation ist ein Ausdruck der „Rape Culture“. Die Bestätigung des eingereichten Vortrages scheint eine in Kauf genommenen Eskalation zu sein, die im Vorfeld auch schon die Spreu vom Weizen trennt: wer wegen Assange keinen Bock mehr auf den Kongress hat, wird auch nicht da sein, um das allgemeine antifeministische und antiemanzipatorische Grundrauschen zu kritisieren. Die Normalisierung und Normierung des Kongresses über einen Proxykonflikt. Darauf einzusteigen ist verständlich, muss aber differenziert reflektiert werden: möchte man noch Richtungsänderungen erreichen oder nur die Beans skandalisieren? Darum sollte auch in einer feministisch-solidarischen Strömung thematisiert werden, warum hier gerade nur Assange Thema ist, oder ob man die Kritik nicht breiter fassen sollte.

Hero Culture

Die öffentliche Reaktion des CCC-Spitzenpersonal ist Abschottung. Anstatt sich dem Diskurs zu stellen, wird Assange banal als „hero“ verklärt. Ein bisschen, wie man als 15-jährigens Kid sich nicht den linken „Helden“ Che Guevara durch die Debatte um seine Kriegsverbrechen, zu denen auch Vergewaltigungen gehörten, kaputt machen lassen wollte. Aus Trotz hat man das T-Shirt auch zur nächsten Demo angezogen, bevor man drüber nachgedacht hat. Aber hier sind erwachsene Leute am Werk, die gesellschaftliche Rahmenbedingungen mitbestimmen. Wenn die solche Trotzreaktionen bringen, dann ist das nicht entschuldbar, sondern einfach nur gefährlich. Einen Personenkult um Menschen zu fahren, die Vertreter_innen ihrer Strukturen im Rampenlicht waren, verschließt den Blick auf Diskursgegenstände, die wir uns dringend vornehmen müssen, nämlich eine strukturorientierte netzrevoltierende Arbeit.

Und eigentlich war der CCC da lange für mich ein Vorbild. Es gibt zwar Führungspersonal, aber die Hierarchien stellten sich nach Außen deutlich flacher als in anderen gesellschaftlichen Kontexten dar. Mit Kurz, Rieger und – als Shooting Star – Fefe gibt es zwar eine kontiniuierliche Vermittlungsschicht, aber sie werden flankiert von Expert_innen in den jeweiligen Unterthemen, denen bereitwillig auch der Platz und das Podium zum Reden gegeben wird. Und warum sollten wir Kurz und Rieger als Held_innen bezeichen? Wenn wir anfangen, uns unsere „hero“-Kultur jetzt selbst zu stricken, machen wir Identifikationspotential an Personen fest und nicht an politischen und gesellschaftlichen Ideen. Eine Bewegung, die sich auf Ideal-Identifikation anstatt auf identitärem Gestus beruft, ist eine nachhaltigere, weil mit den personellen Brüchen nicht gleich der gesellschaftliche Drive verlorengeht – und man sich nebenbei nicht in der Zwickmühle befindet, einen Vergewaltiger für seine gesellschaftliche Leistung zu loben.

Aber dann bleibt noch die Frage, warum eine Organisation einer emanzipatorischen und gesellschaftskritischen Veranstaltung überhaupt jemanden wie Assange die Bühne gibt. Die Antwort ist einfach: der 30C3 ist keine emanzipatorische Veranstaltung, genauso wie die geselllschaftskritische Komponente eine staatstragende, reformistische ist. Der ehrwürdige Chor, der „Zensur! Meinungsfreiheit! Rechtsstaat!“ singt, hat da seine Jahreshauptversammlung. Assange ist die Garantie dafür, dass der Kongress in den Medien landet und einen gesamtgesellschaftlich bekannten Namen präsentieren kann. Er ist nur die logische Konsequenz dessen, was der Chaos Computer Club seit Jahren als Strategie verfolgt.

Säulen des gesellschaftlichen Einflusses

Wenn man sich die strategische Positionierung des CCC anschaut, dann sieht man eine Strategie des „Maximal Impact“ auf drei Säulen. Die erste Säule ist: das Bundesverfassungsgericht. Unter dem höchsten juristischen Korrektiv geht nichts mehr. Um abseits vom Parlamentarismus einen tiefgreifenden gesellschaftlichen Einfluss zu haben, sucht man den Schulterschluss mit der Judikative, und gibt sich bereitwillig als Sachverständige her. Anders als in den Anhörungen des Bundestages erlangt der Club hier auch seine Bestätigung und stilisiert in Folge aus Dankbarkeit dafür, dass ihnen mal jemand zuhört, das Bundesverfassungsgericht als das letzte demokratische Bollwerk der Bundesrepublik hoch. Für das demokratische Verständnis, dass durch den Club an die Fanbase vermittelt wird, übrigens ein totales Problem, ist es doch ein Schulterschluss zwischen acht juristischen Granden und der Expertise der Sachverständigen – ein Hoch auf eine technokratische Gesellschaft, ne?

Die zweite Säule ist die FAZ. Die enge Verbindung zwischen Rieger, Fefe und Schirrmacher ist offen einsehbar, die Medienarbeit und die großen Würfe fanden über diese auflagenstarke Publikation statt. Die FAZ ist ohne Zweifel das Blatt, dass von den Entscheider_innen der Nation am ehsten gelesen wird, der CCC erreicht damit die gesellschaftliche Führungsriege. Anstatt die eigene Avantgarde über die ihnen eigenen Kanäle zu bestätigen, werden die großen Skandale in das Herz der Bestie getragen. Eigentlich ein lobenswerter Gedanke, er reiht sich aber ein in eine Strategie der maximalen gesellschaftlichen Wirkung.

Die dritte Säule ist der geöffnete Kongress. Es war in den letzten Jahren absehbar, dass der Kongress keine Szene-Veranstaltung mehr ist, sondern eine breite Resonanz erfährt – sehr gut spiegelte sich das an den schnell ausgebuchten Tickets wieder. Der „Fusion“-Effekt – der Ausverkauf nach wenigen Sekunden – führte zu dem Richtungsentscheid, dem Kongress mehr Raum zu geben oder ihn zu regulieren (z.B. eine „member and a friend“-policy).  Man entschied sich durch den Umzug nach Hamburg für die Öffnung. Mehr Platz, keine Besucher_innen-Begrenzung mehr. Die ganzen Regierungsvertreter_innen, Lobbyist_innen und Konzernstrateg_innen konnten wieder rein, trugen nicht wenig zur Refinanzierung bei und transportierten die Ideen der Avantgarde in die Institutionen, in den Gesellschaft produziert wird. Maximaler und kurzfristiger gesellschaftlicher Einfluss wird auch durch den Kongress bestimmt. Und damit die dritte Säule auch ihren Status in der zunehmenden Konkurrenzssituation (re.publica? OHM? etc.) hält, braucht man halt die großen Namen. Mit Assange bestätigt man gegenüber denjeniegen, die als Vermittler_innen zwischen Avantgarde und Institutionen dienen, den Führungsanspruch als wichtigste und einflussreichste Hacker_innen-Konferenz in Deutschland und Europa.

… und nun?

Das ist die Debatte, der sich eine Hacker_innen- und Netzbewegung mit emanzipatorischem Anspruch stellen muss. Wollen wir, dass wir nur technokratische Stichwortgeber_innen im gesellschaftlichen Diskurs sind, oder sollten wir nicht lieber daran arbeiten, dass wir eine kohärente und nachhaltige gesellschaftliche Alternative unter Ausnutzung technischer Errungenschaften (und unter Kritik derselben) erschaffen? Die Politik des CCC formuliert in den allerseltensten Fällen die Kritik am bürgerlichen Staat an sich, vielmehr ist der reformistiche Charakter einer, der nachhaltig die Herrschaftsformen der bürgerlichen Gesellschaft stützt. Schon die Analysekategorie scheint überhaupt nicht präsent zu sein. Für mein Verständnis wäre es nachhaltiger, sich tatsächlich kreierend betätigen, anstatt reformistisch die bürgerliche Gesellschaft für ein angenehmeres Klima zu bearbeiten.

Was hat das noch mit Assange zu tun? Assange ist nur das Symbol, an dem diese Richtungsentscheidung der Bewegung sich messen lassen muss. Wikileaks ist das perfekte Beispiel, wie es nicht laufen kann in einer emanzipativen Bewegung (auch, aber nicht ausschließlich, weil ein Vergewaltiger als Held mit dunklen Seiten gefeiert wird), wie sich kein gleichberechtiges Organisationsmodell mit globaler Adaptivität entwickeln lassen kann. Und Assange zeigt, dass wir uns um diesen Konflikt weitgehend drücken und einer Strömung in der Bewegung die Deutungshoheit darüber überlassen, was dem Weg zum gesellschaftlichen Einfluss nützt und was nur davon ablenken würde. Wir sind hier in einer – nicht ausgesprochenen – Debatte um den Haupt- und Nebenkonflikt.

Der erste Schritt – und hier ist noch Zeit zum Korrektiv  – muss sein, sich dieser Debatte zu stellen. Konkret an Wikileaks, Konkret an der Richtungsentscheidung des CCC und abstrakt an der Vorstellung, was wir als Bewegung und als Aktivist_innen eigentlich wollen. Dieser erste Schritt eröffnet den Diskurs und schafft den Raum. Und diesen Raum, den müssen wir uns nehmen.

 

Klirrende Kälte empfängt einen frühmorgens um 8 Uhr an einem Sonntag in Berlin im Dezember. Der erste Advent legt sich noch als schläferige Kollektivverweigerung über die Stadt. Der Hund streckt sich und gähnt, als ich die Tür zur Geschäftsstelle in der Pflugstraße öffne.

Ich bin kein Mitglied der Piraten. Jedenfalls nicht dass ich es wüsste, ich bekomme trotzdem immer Zahlungsaufforderungen per Mail. Verwirrend. Ich war es aber mal, vor langer Zeit, in Brandenburg. Idealismus, Vertrauen in die Parteiendemokratie, Jugendlichkeit, Netzszene. Der Umzug nach Berlin, bunte politische Biografie, die ich irgendwann mal in all ihren Widersprüchen zusammenfassen sollte, damit Menschen mich verstehen. Ich habe glaube ich schon mal bei allem links der CDU reingeschaut und mich drüber aufgeregt.

Mein Blick ist irgendwo zwischen interner Beobachter und externer Fan. Meine tieferen Einsichten beschränken sich auf die Berliner Ebene und auf Sachen, die tagtäglich durch meine Twitter-Timeline rollen. Ich arbeite nahe an den Piraten, aber nicht in der Partei.

Deswegen war ich am Wochenende auch in Berlin und nicht in Bremen. Trotzdem, ich wollte – auch um meinen Job vernünftig zu machen – mir den Parteitag aus sicherer Entfernung anschauen. Zusammen mit Gero habe ich mich darum gekümmert, dass Interessierte sich gemeinsam den Stream anschauen konnten – eine sehr angenehme Sache, das Angebot haben dann auch einige Personen wahrgenommen.

Ausgestattet mit viel Essen und noch mehr Getränken, Beamer und einem Livekommentar von Gero, der mir das Who-ist-Who der Partei erklärte, verfolgten wir also seit Samstag den Bundesparteitag.

Chaos – im Guten wie im Schlechten

Die Vorstellung praktischer direkter Demokratie ist immer noch bestechend. Jeder kann einfach zum Bundesparteitag fahren und mitbestimmen. Direkte Demokratie, keine Machtriege, der Schwarm, geil! Die Ernüchterung verbleibt, wenn man sieht, welche chaotischen Zustände das mitunter auslöst. Fast alle Zeitungen berichten spöttisch über Geschäftsordnungs- und Tagesordnungsschlachten, die die Versammlung bestimmten. Was vor einigen Jahren sympathisch war – und auch heute noch sein kann – kann einer Partei, die sich in einem gefühlten Allzeittief befindet, das Genick brechen.

So verblieb auch der Eindruck: die Leitung der Versammlung schwankte zwischen Professionalität und dem verzweifelten Versuch, Produktivität aus dem Parteitag herauszukitzeln – rechtlich nicht immer einwandfrei. Zumindest blieben Fragen offen. Chaos mit Chaos zu beantworten verschenkte hier Potential. Man kann der Versammlungsleitung zu Gute halten, dass sie es zumindest geschafft hat, den Vorstand einigermaßen zu besetzen – was den Anwesenden aber zu denken geben sollte. Die verwirrenden und schlecht vorbereiteten Wahlverfahrensversuche trugen nur zur Verschlimmerung der Situation bei.

Zwischen Professionalisierung und Dilettantismus glitzerten immer wieder einzelne Punkte hervor. Beispielhaft, an dem Punkt, wo durch eine schlechte Übersetzung die Rede der schwedischen Piraten-Vertreterin zu einer Farce verkam. Dabei war es respektabel, dass sich jemand darum kümmern wollte, und das Engagment ist der Person anzurechnen.  Aber warum gibt es für diesen geplanten Auftritt keine Vorbereitung? Das Redemanuskript lag ja anscheinend vor.

In dem Ablauf merkt man auch, wie sich bestimmte Prozesse aus dem Netz in den zeitlich und räumlich eng abgegrenzten Raum des Parteitages übertragen: die Empörungskultur, die den kurzen Kick des „Ich-hab-auch-mal-was-zu-sagen“ über den Erfolg einer konstanten und tiefen Debatte stellt, ist davon wohl das Unangenehmste.  Dieser Debattenform sollte in Zukunft intensiv entgegengewirkt werden.

Tagesordnung from Hell

Im Vorfeld zum Parteitag gab es einige Punkte, die einer Debatte auf dem Parteitag bedurften. Dazu zählten:

  • Innerparteiliche Quotenregelungen
  • Die Europa-Wahl und die Vorschläge zu einem Europawahlprogramm
  • Innerparteiliche Willensbildungsprozesse

Diese drei – sicherlich sehr subjektiven Punkte – hätten, wäre es zu einer ordentlichen Debatte gekommen, ein Befreiungsschlag für die zerstrittenen Gruppen in der Partei sein können. Der Befreiungsschlag blieb aus.

Die Ausgestaltung als Wahl-Parteitag führte dazu, dass – immer wieder mit der Begründung, die Partei bräuchte populäre Köpfe, die Programmpunkte vermittelten – sich nur auf die Vorstandswahlen konzentriert wurde. Dabei war im Vorfeld absehbar, dass diese populären Köpfe gar nicht erst zur Wahl antreten würden. Die Konzentration darauf mag auf einer richtigen Fehleranalyse beruhen, sie hat aber auf diesem Parteitag keinen Mehrwert in Form einer stabilen und kraftvollen Umstruktierung des Vorstandes gebracht. Die Menschen, die jetzt an der Spitze der Partei stehen, müssen sich selbst erst einmal aufbauen und auf der Bundesebene positionieren. Kein leichter Job, zumal mit der Entscheidung, das Führungspersonal der Partei weiterhin nicht zu bezahlen – außer dort, wo ansonsten die Person auf Sozialleistungen angewiesen wäre – auch für die Zukunft keine Perspektiven professioneller dauerhafter Arbeit jenseits von Burn-Out eröffnet und populäre Vertreter_innen der Partei mit ihrem Bedürfnis nach gerechter Bezahlung alleine lässt. „Mit dem BGE wäre das alles besser“, bekommt man da zu hören. Stimmt. Aber auch im Kommunismus wäre alles besser. Und wir haben weder BGE noch Kommunismus, so deal with it.

Einer der wenigen Lichtblicke der Veranstaltung war im Übrigen die Reaktion auf den „In der Partei herrscht KRÖÖÖÖG!“-Kandidaten, der verdientermaßen ein Meer von „Zeige Respekt“-Karten für seine NPD-Parteitagsrede bekommen hat. Das hat mir gezeigt, dass die Partei Selbstreinigungskräfte hat und zu klaren Bekenntnissen fähig ist – die müssen nur stärker nach Außen vertreten werden.

Ein Europa der Quoten

Die im Vorfeld heiß geführte Quotendebatte ist aus meiner Perspektive ein Symptom einer intensiv geführten Diskussion zwischen einem links-emanzipatorischem Teil der Piraten und einem bürgerlich-liberalen. Ich habe schon früher darauf verwiesen, dass ich einen sehr linken Kurs für diese Partei für einen guten und richtigen Kurs halte, deswegen wird meine Analyse nicht sehr überraschen: mit der Vertagung der Debatte um die Symptome wurde gleichzeitig auch der Diskurs um die grundsätzliche Ausrichtung der Partei vertagt, und auch darüber, wie man die Gruppen untereinander versöhnen und zur Zusammenarbeit bringen kann. Das wird – und das ist den Piraten zu Gute zu halten – gerade nicht über einen Vorstand passieren, sondern nur über die knallharte inhaltliche Debatte und über die Abstimmung durch die Basis. Aber diese Chance wurde ungenutzt gelassen. Dass der Vorstand zur Hälfte mit Frauen besetzt ist, feiern  die Quoten-Gegner_innen als Bestätigung ihrer Position.  Ausgeblendet wird, dass sowohl die Posten des Vorsitzenden und des Politischem Geschäftsführers weiterhin von Männern besetzt werden. Männer dominieren also die Spitzenpositionen der Piraten. Das wird konsequenterweise dann auch von Außen so wahrgenommen.  Teil des Problemes, für das Quoten eine Lösung bringen können, sind fehlende weibliche Kandidaturen. Die Orientierung an anderen Parteien, die mit Quoten und Doppelspitzen Werkzeuge einer emanzipatorischen Parteiführung entwickelt haben, blieb aus. Dabei können gerade Doppelspitzen auch eine Politik der Einigung zwischen parteiinternen Konflikten herbeiführen.

Und dann ist das noch das Ding mit der Europawahl. Der Kater nach der Bundestagswahl scheint große Teile der Partei gelähmt und in Schockstarre hinterlassen zu haben. Zwei Komma X Prozent, das würde auch nicht für Plätze im Europaparlament reichen. Da braucht es also eine organisatorische Neuaufstellung, flankiert durch eine konsequente Vermittlung von relevanten Inhalten im Rahmen einer starken Personaldecke. Relevante Inhalte sind aus meiner – subjektiven – Perspektive: Kritik an der Re-Nationalisierung der europäischen Staaten, dem Einstehen für ein solidarisches Europa nach Innen und nach Außen, daraus folgend ein Ende der „Macht-durch-Schulden“-Politik und eine menschenwürdige Asylpolitik durch Abriss der Festung Europa. Am Ende des Parteitages war aber eher der Eindruck: „Aus Zeitgründen müssen die Piraten ihre Teilnahme an den Wahlkampfvorbereitungen leider absagen. Bitte ziehen Sie über Start und ziehen Sie keine 4000€ ein.“

Die Katerstimmung überschattet also die produktiven Chancen der Partei. Das Chaos während des Parteitages erstickt jedes Aufbegehren enagierter Arbeit. Die Konsolidierungsphase der Partei wird sich weit über das Jahr 2014 erstrecken. Eine langfristigere Planung – vielleicht sogar die ehrliche Nicht-Teilnahme an der EU-Wahl – scheint mir die einzige realistische Perspektive zu sein.

Im Maschinenraum 

Dazu kommt eine erbitterte Tool-Belt-Diskussion. Mit Liquid Feedback, Basisentscheid Online, Ständige Mitgliederversammlung und Dezentralen Parteitagen sind zahlreiche Möglichkeiten der Teilhabe der Basis an der Parteiarbeit in Produktion. Dem stehen rechtliche Bedenken, Konkurrenzen und persönliche Animositäten entgegen. Die Piraten brauchen nur in wenigen Punkten eine starke Führung. In dieser organisatorischen Sache scheint sie angebracht. Hier muss vermittelt und mit Hochdruck entwickelt werden. Denn wo diese Debatte einerseits einer der schlimmsten Spaltungsfaktoren innerhalb der Basis ist, so ist sie doch gleichzeitig eine der wichtigsten Perspektiven, die Partei zu professionalisieren und gleichzeitig den Idealismus einer Teilhabe-Partei in die bittere Parteienrealität zu transformieren. Mit kompetenten Entwickler_innen, Berater_innen und Jurist_innen sollte sich ein schlagkräftiges Team aus den einzelnen Fraktionen bilden, das an einer funktionierenden Einigung arbeitet.

Und dann kann man auch die Debatte um das Chaos führen. Delegiertensysteme auf den Parteitagen scheinen dann reizvoller und machbarer, wenn die Basis weiterhin machtvolle Möglichkeiten erhält, sich über Stimmungsbilder und direkten Delegationen (die on-the-fly entziehbar wären), einzubringen. Oder wenn zentrale Richtungsentscheidungen schon im Vorfeld oder im Zwischenfeld von Parteitagen getroffen wären.

Führungsfrust

Und während die Partei vor diesen Aufgaben steht, die viel Arbeit erfordert, aber kurzfristig kaum Früchte tragen wird, steht der Vorstand vor der Mammutaufgabe, genau diese Umstände erstmal zu reflektieren, Konsequenzen zu ziehen, Potentiale zu analysieren und damit Wahlen vorzubereiten. Parteifinanzierung wird bei gefrusteten Mitgliedern ohne wirkliche Zahlungspflicht ein wichtiger Nebenschauplatz bleiben. Kommunikation von Alleinstellungsmerkmalen – wie zum Beispiel einer schon seit einiger Zeit richtungsweisenden Asylpolitik – muss erfolgen, „while its fresh and juicy.“ Andere Parteien übernehmen ständig im Copy-and-Paste-Verfahren die Inhalte der Piraten. Fahrscheinfreier ÖPNV? Solidarische Asylpolitik? NSA- und Whistleblower-Debatte? Es scheint, als wären die Piraten eine gefahrlose Avantgarde, die für linke Parteien als ausgelagerte Inhaltsproduzentin genutzt wird. Deswegen muss der Zeitvorteil genutzt werden: Pressearbeit aufbauen, professionalisieren und nicht in idiotischen Attacken verkommen lassen.

… und der nächste folgt sogleich

Der nächste Parteitag ist nur einen Monat entfernt. Er bietet Chancen, die Fehler des unbefriedigenden Bundesparteitags 2013.2 zu korrigieren. Das Korrektiv muss dabei ganz klar auf eine dauerhafte und stabile Veränderung ausgerichtet sein, die die Basisstürme überlebt und auf Jahre einen festen, strategischen Kurs setzen kann. Die Chance der Stabilität wurde im Übrigen durch das nicht gewährte Vorstandsgehalt deutlich geschmälert. Wer gute und intensive Arbeit leisten soll, sollte das auch in der bürgerlichen Gesellschaft vergütet bekommen. Es ist – Arbeit!

Meine Empfehlung verbleibt immer noch: die inhaltlichen und organisatorischen Debatten sollten zentralisierter – d.h. über ein Publikationsorgan mit möglichst parteiweiter Reichweite – und tiefgründiger geführt werden. Es braucht parteinahe, aber unabhängige Think Tanks, die Kompetenz und Strategie mit ideologischer Grundlagensuche verbinden.

Nutzt die Chance, liebe Piraten, die Relevanz und der Erfolg kommt dann von allein. Und seid vor allem eins: geduldig.

 

 

Deportationsmahnmal S-Bhf. Westhafen / Berlin. Fotograf: plomlompom.

Der gestrige Tag war im Gedenken an den 9. November 1938 geprägt. In den Novemberporgromen wurden durch die Mehrheitsgesellschaft über 1400 Synagogen zerstört, dazu viele Jüd_innen ermordet, verschleppt und in KZ verbracht. Das Dritte Reich läutete damit den Auftakt zur sytematischen Vernichtung jüdischer Menschen ein. In einer beeindruckenden und bewegenden Gedenkveranstaltung gedachte man in der Jüdischen Gemeinde Berlin den Ereignissen, zusammen mit Holocaust-Überlebenden, Gemeindemitgliedern und politischen Würderträger_innen.

75 Jahre danach. Und nichts ist überwunden. Der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde, Dr. Gideon Joffe, bemerkte ganz richtig: es ist leicht zu sagen, der mörderische Antisemitismus ist ablehenswert. Ich bin dagegen, dass Synagogen brennen. Ich bin dagegen, dass Jüd_innen vergast werden. Ich bin dagegen, dass auf offener Straße Jüd_innen erschlagen werden. Aber. – Und dieses „Aber“ ist der zeitgenössische Antisemitismus. Israelkritik von „Links“. Die Verteufelung der Beschneidungspraxis – ein zentraler Bestandteil jüdischer Idenität. Rechte Verschwörungstheorien. Das Schimpfwort „Jude“ auf den Schulhöfen. Gesellschaftlicher Antisemitismus ist nicht überwunden. Jüd_innen fühlen sich – wohl leider zurecht – von den antisemitisischen Ausprägungen in der Gesellschaft bedroht.

Wir saßen da, wir nickten. Intellektuell ist das zu begreifen, wir begreifen uns als solidarisch, wir fühlen uns in die Pflicht genommen. Danach schütteln wir Hände, erkundigen uns nach dem Wohlbefinden. Diejenigen von uns, die politische Ämter wahrnehmen, erweitern ihre Netzwerke. Stehen in der ersten oder zweiten Reihe für die Fotos. Demonstrieren ihr intellektuelles Verständnis nach Außen. Danach: gepflegt Essen gehen, den Alltag wieder einkehren lassen. Gedenken für uns in zwei Stunden. Nicht unbedingt Pflicht, aber auch kein Teil unserer Lebensrealität. Anders als viele Mitglieder der Jüdischen Community in Berlin und weltweit, in denen die Berichte und Erzählungen aus der Pogromnacht ein fester Bestandteil der Familienhistorie und des kollektiven Wissens sind. Und selbstverständlich das, was der 9. November 1938 einleitete. Die Shoa.

Wir gehen also ins Restaurant. Treffen uns mit Freunden, sitzen den Abend über Bier und Schnaps, philosophieren und diskutieren parteipolitische Strategien. Der Alltag fängt uns ein. Irgendwann verabschieden wir uns, „War ein schöner Abend“, lass uns das wiederholen. Unbedacht. Wir fahren nach Hause, nie darum fürchtend, dass die Fensterscheiben zerstört, die Privatheit in Brand geraten, die Existenz nihiliert wurde. Teil unseres Privilegs. Ein letztes Mal vor dem Einschlafen Twitter aufgemacht, schauen, was der Freundeskreis so macht, ob es Nachrichten gibt. Und dann steht da „Die Synagoge in Fulda wird angezündet.“ – Ich stehe kerzengerade im Bett. Was geht da vor sich? Heute? An diesem Tag brennen Synagogen?

Ich lese weiter. Aus weiteren Orten werden brennende Synagogen gemeldet. Ich will mich anziehen. Müssen wir irgendwas in Berlin organisieren? Mein Hand liegt am Handy, bereit, Freund_innen anzurufen. Berichte trudeln ein, über zerstörte Scheiben, verschleppte Menschen. Und dann über Himmler, über die SA, über zusammengeschlagenen Menschen, über gestürmte Wohnungen. Im ganzen Bundesgebiet. Über Telegramme aus Frankreich. Alles kommt von einem Account, 9Nov38. Sein Titel: „Heute vor 75 Jahren.“ Mir wird bewusst, was ich da lese. Verantwortlich zeigen sich mehrere Historiker_innen, z.T. Studierende.

Moritz Hoffman, Leiter des Projekts, beschreibt die Idee wie folgt:

Wir betrachten nicht nur den 9. und 10. November, sondern seine unmittelbare Vorgeschichte und die ersten Nachwirkungen. Wir beschränken uns also nicht auf 24-36 Stunden, sondern wollen nachverfolgen, was vor exakt 75 Jahren passierte, tages- und möglichst auch uhrzeitgenau. Dabei müssen wir Kompromisse machen – nicht immer sind genaue Zeiten überliefert. In solchen Fällen achten wir auf Plausibilität, und wenn diese nicht herstellbar ist, müssen wir auf den speziellen Tweet verzichten.

Das Ganze ist ein Experiment, es ist eine Auslotung unserer Fähigkeiten zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit, weder verdienen wir Geld damit noch geben wir welches aus, wir hoffen auf Leserschaft und erwarten auch Kritik. Wer immer uns etwas mitteilen möchte, sei dazu gerne hier oder an jeder anderen Stelle aufgerufen. Und vorläufig ist es für uns auch in erster Linie spannend.

Mit mir erstarrt mein Twitterumfeld. Es ist kurz nach Mitternacht, und die Möglichkeit, die historischen Ereignisse so nah an sich heranzulassen, schlägt meine soziale Peer Group in seinen Bann, entsetzt, erschüttert. Die Nachrichten, die in der Spanne eines Menschenlebens entfernt sind, wurden nur durch Tweets unterbrochen, die die Gefühle der Lesenden beschreiben. Genug waren den Tränen nahe, viele verspürten Wut, das Bedürfnis, aufzuspringen, so wie ich. Dazu die Empfehlungen, dass jetzt jeder das Feiern sein lassen sollte, sich hinsetzen solle, und das verfolgen sollte. Schon allein aus der Maßgabe heraus, dass es nie wieder geschehe. Und so wurde aus dem individuellen Konsum ein kollektives Gedenken. Menschen schrieben, wie sie auf einer Couch im Club saßen und vergaßen, dass sie unterwegs waren. Aus der Gedenkminute wurde für viele eine Nacht des Gedenkens. Kaum jemand konnte schlafen gehen, kaum jemand konnte aufhören, gebannt zu lesen. Auch ich schaffte erst in den frühen Morgenstunden, das MacBook zuzuklappen und einige Stunden Schlaf zu fassen. Als ich aufwachte, habe ich mich erschrocken: was, wenn ich etwas wichtiges verpasst habe? Erneut wurde mir bewusst, wie dünn die Spanne zwischen zwei verschiedenen Epochen durch die Berichterstattung im Livebericht geworden war.

Gerade politisch aktive Menschen sind es gewohnt, sich über Demonstrationen und Aktionen über abonnierte Hashtags oder Ticker-Accounts auf dem Laufenden zu halten. Wir verfolgen mit, was passiert, wir empören uns über Naziangriffe, über Polizeigewalt, über rassistische Kontrollen. Das scheint auf einmal alles so klein zu sein. Durch die minütliche Aktualisierung der historischen Begebenheiten wird mir die Totalität der Pogrome vor Augen geführt. Es ist keine Demonstration in Hamburg, keine Parkrodung in Stuttgart, keine Besetzung in Berlin. Es ist der allumfassende antisemitische Hass, der sich überall in Deutschland am 9. November 1938 entladen hat. Die Berichterstattung lässt mich über Orte lesen, deren Namen ich nie zuvor gehört habe. Sie lässt mich Teilhaben an dem Schicksal von Menschen, deren Name sich nirgendwo eingebrannt hat. Und das immer wieder aufs Neue, ohne Ende, ohne dass das Entsetzen Zeit findet, nachzulassen. Die Unmittelbarheit lässt das initiale Gefühl immer wieder aufleben: das ist so nahe, das klingt so plausibel, es könnte jetzt passieren. Es war historisch singulär, aber es ist wiederholbar. Und ich begreife diesmal nicht nur intellektuell, was an diesem Tag vor 75 Jahren passiert ist.

Ich weiß nicht, welche Preise es für diese Medienform geben kann. Ich weiß nur, dass dieses Jahr dieses Projekt sie alle bekommen sollte.

 

[tl;dr: Linken Think Tank aufbauen, um einer emanzipativen Bewegung, deren Teil die Piraten sein könnten, das theoretische und handlungsoptionale Fundament zu geben, dass sie im politischen Diskurs contra de facto schwarze Alleinherrschaft dringend benötigt.]

Als ich am vergangenen Sonntag auf meinen Wahlzettel runtergeschaut habe, war ich immer noch schwer am Überlegen. Als einer der ersten in Friedrichshain stand ich schon 8:30 Uhr im Wahllokal. Ich mag kein Anstehen und ich will Sachen abarbeiten, so funktioniere ich. Ich hatte mir vorgenommen, meine Stimmen sinnvoll zu splitten. Einerseits den Ströbele zu kippen, andererseits einer Partei in den Bundestag zu verhelfen, von der ich hoffte, dass sie dort mehr Profil zeigt als sie es jetzt gerade kann. Und dann stand ich da. Der Plan war gut, aber ungültig machen schien mir ähnlich sinnvoll zu sein. Nicht, weil ich die Piraten nicht mehr im Bundestag sah – das stand ja schon eine Weile fest – sondern weil ich daran zweifelte, was ich mit der Wahl der Partei erreichen wollte. Ich lasse hier offen, ob ich ungültig gestimmt habe oder der bürgerlichen Demokratie meine höchstpersönliche Legtimation überreicht habe.

Aber auch auf dem Weg nach Hause, der Hund rannte eh ständig vor und wollte sich nicht bespielen lassen, kam ich aus dem Nachdenken nicht heraus. Warum ist diese Partei eigentlich so zahnlos, so zerstritten, so seltsam dual? Auf der einen Seite haben wir effektive Fraktionen, die in den letzten Jahren Wähler_innen überzeugen konnten und es sich nach einiger Anlaufzeit in den Parlamenten bequem gemacht hatte. Sie sticheln die Regierungen, stellen kluge Fragen, entwickeln Expertise. Manche mehr, manche weniger. Manche Menschen wollen in diesem Abgeordnet_innen-Status sein, manche fühlen sich sichtlich unwohl. Sie haben die üblichen politischen Wehwehchen, die letztendlich doch nur die Menschen hinter den Zahnrädern des Politikbetriebes darstellen. Und sie erscheinen, mal mehr mal weniger, seltsam losgelöst von der Partei. Diese wiederrum leistet sich genau das, was andere Parteien sich auch leisten – aber für alle transparent. Die ganzen Kleinkriege, die ganzen Richtungs- und Personalkämpfe sind offen einsehbar. Für Parteiaktivist_innen sind sie durch die digitale Vernetzung nicht ausblendbar. Wo der CDU-Kreisverband seine monatliche Sitzung hat und ansonsten jeder sein Ding macht, ist man bei den Piraten jederzeit (an-)greifbar. Fehden werden dauerzeit ausgetragen, ständig müssen politische Entscheidungen getroffen werden, die die Richtung der Partei verändern oder die eigenen Positionierung erfordern. Viele Aktivist_innen haben sich in Diskursen über Sexismus, Post-Gender und Feminismus, über Post-Privacy, über rechts-links-Schemata und Extremismustheorien total aufgebraucht. Es ist leicht, aus dem Off anzugreifen und aus allen digitalen Rohren zu feuern. Die Filterbubble in herkömmlichen Parteistrukturen, das sieht man vom externen Blickwinkel, funktioniert einfach besser.

Als ich darüber nachdachte, was mir eigentlich an den Piraten gefällt, kam ich recht schnell auf: Berliner Realpolitik. Die Arbeit im AGH, die Arbeit in den Bezirksparlamenten. Aber die Partei ist nicht nur Berlin, auch wenn ihr das sichtbar gut täte. Ich erinnerte mich auch dunkel an die Arbeit in den anderen Landesparlamenten, aber natürlich ist mir das Lokale vertrauter. Ich habe mich immer wieder gefragt: warum hat man davon im Wahlkampf oder davor nichts gesehen. Die Plakate im Stile von „Sorry, wir versuchen es besser“ fand ich lustig, ehrlich und … teilweise falsch. Warum, liebe Piraten, wird nur das eigene Scheitern kommuniziert? Das ist gut, dass ihr das ansprecht, das macht euch greifbar und sympathisch. Aber ihr habt einige interessante Arbeit zu bieten. Stellt heraus, in welchen Bündnissen ihr lokal mitwirkt, analysiert doch mal, welche Erfolge ihr im AGH verbuchen konntet. Gerade in Berlin wäre nach zwei Jahren Piraten in der Stadt eine Zwischenbilanz sinnvoll gewesen. Ich will wissen, was aus meiner Stimme von 2011 geworden ist, die ich als Vertrauensvorschuss gegeben habe. Hat sich das gelohnt, sollte ich das bei der Bundestagswahl wieder machen? Wenn diese Frage versucht wurde zu beantworten, dann nicht so, dass es bei mir ankam. Ich will dem nicht hinterherrennen müssen. Ich bin ein fauler Wähler. Einer, der daran zweifelt, ob er überhaupt wählen soll. Ihr habt es nicht gerade attraktiver für mich gemacht.

Und dann ist da die Sache mit den Inhalten. Und hier wirds ernst. Ihr habt ein Bundesprogramm, richtig? Meine Assoziation mit den inhaltlichen Vorstellungen der Piraten ist folgende: „Bedingungsloses Grundeinkommen“. Nach Wochen mit Plakaten überall und nach aufmerksamen Nachrichten lesen ist mir nichts (!) anderes im Kopf geblieben. Wenn ich so drüber nachdenke, bin ich sogar verwundert, wo eure vielbeschworenen Kernkompetenzen hin sind. Ich habe keine Ahnung, wofür ich das Kreuz gemacht habe oder hätte. Was wollt ihr denn, und dann noch wie, im Bundestag vertreten? Und während diese gähnende Inhaltsleere in meinem Kopf sich mit eurem Parteilogo verbindet, komme ich Zuhause an. Den Hund habe ich irgendwo unterwegs an einem Baum verloren, den er x-mal schnüffelnd umkreist und weit hinter mich zurückfällt. Ein kurzer Pfiff, und er schaut hoch. Etwas trotzig schaut er mich an, setzt sich dann aber in Bewegung. Letztendlich weiß er, dass ich immer noch die Hand bin, die ihn füttert. Und er mich ja eigentlich auch mag.

Wir stehen vor meiner Erdgeschosswohnung. Ein Nachbar kommt gerade schlaftrunken aus dem Flur. „Na, schon wählen gewesen?“ Ich nicke kurz. „Ick mach auch gleich, aber ick verrat nicht wen.“ Sehr gut, er hat das mit den Grundsätzen der geheimen Wahl verstanden. Mein Lächeln ist freundlich, aber trotzdem rumort es in mir: was der Typ wohl wählt? Sympathisch ist er ja. Also vielleicht Linke. Aber dafür ist er zu hip. Grüne? Nein, das passt nicht. Er ist zwar biodeutsch, aber kein Bio-Deutscher. Vielleicht hat er über die Piraten nachgedacht. Darüber, dass er in den letzten Monaten nur Chaos erlebt hat, dass ein Haufen seltsame Leute sich über Themen stritten, die ihm absolut nichts sagten. SMV? LiquidFeedback? Ich glaube, er will einfach wissen, wie sich die Piraten verhalten werden, wenn wieder deutsche Soldaten unsere Freiheit in irgendeinem Gebirge dieser Welt verteidigen sollen und dabei in schönster Wehrmachts-Tradition Krieg spielen dürfen. Oder wie die Piraten eigentlich dieses bedingungslose Grundeinkommen, was ihm ja ganz gut in den Kram passen würde wenn er die Gallerie aufmachen will, überhaupt bezahlen wollen.

Es fehlt an Richtung. Es fehlt an Diskurs. Dort wo Menschen sagen, sie wollen sachgerechte Entscheidungen treffen, bleibt die politische Richtungsentscheidung auf der Strecke. Dem deutschen Politikbetrieb mangelt es an wirklichen politischen Debatten. Man streitet sich um Zahlen, wo man sich um Ideen streiten sollte. Die „alternativlose“ Politik der Regierung Merkel ist Träger dieser Politik-Kultur und die Piraten sind dafür schon von ihrer technokratischen Ausrichtung her anfällig. Wer Politik ausschließlich über Sachargumente „lösen“ will, unterwirft sich einem Determinismus, der Diskurse blockiert.

Die Piraten müssen Mut haben, sich ein Profil zu geben. Dabei dürfen sie nicht die wirtschaftsliberale Rolle der FDP einnehmen, die es zum Zeitpunkt meiner Gedanken nur noch wenige Stunden mit einer Bundestagsperspektive geben soll. Die Ron-Paul-libertäre Ausrichtung mag vielleicht erklärtes Ziel einer starken und diskursübertönenden Fraktion in der bundesweiten Perspektive sein. Aber das ist nicht das Potential, welches in den Piraten steckt, das haben die Wahlergebnisse gezeigt. Sorry, aber ihr könnt ruhig etwas mehr Anarchie wagen – und das so sagen. Das Potential steckt in einer starken und modernen linken Ausrichtung. Dort, wo kritische Theorie ihre realpolitischen Anknüpfungspunkte findet, liegt die wahre Stärke der Partei, würde sie ihre Aktivist_innen an Bord halten können. Ihr ganzes Konzept sagt „Herrschaftskritik“, jetzt muss das klare Bekenntnis zur praktischen Umsetzung kommen. Feministischen, antirassistischen, antifaschistischen, ideologiekritischen, sozialraumanalysierenden Positionen muss Raum gegeben werden. Es muss ein gemeinsames Wertesystem entwickelt werden, das sich in den realpolitischen Entscheidungen widerspiegelt. Idioten, die das seit Jahren torpedieren muss eine klare Absage erteilt werden. Nazis bei den Piraten? Rauskicken, sofort, konsequent. Antisemit_innen? Kein Zaudern, absägen. Dazu müssen Strukturen geschaffen werden. Dazu müssen Inhalte erdacht werden. Dazu müssen – und das ist das wichtigste – Menschen, die die Schnauze voll hatten, aktiviert werden.

Inzwischen habe ich mir frischen Minz-Tee gemacht und mich an meinen Schreibtisch gesetzt. Vor mir liegen Bücher, Adorno/Horkheimer zum Beispiel oder Mahlmann’s Übersicht zur Rechtsphilosophie. Ich denke über Diskurstheorien nach. Legalistisch müsste man neue Verfahren erwirken, wirklich mal beim Urschleim anfangen und nicht nur vom Demokratie-Update reden, sondern drüber nachdenken: welche Demokratie, welche Institutionen, welche Verfahren will ich eigentlich wie updaten? Kann ich den Gesellschaftsvertrag auch ohne die AGBs gelesen zu haben mit einem Klick aufs entsprechene Kästchen abschließen? Welche demokratische Teilhabe ermögliche ich wem und warum? Das kann natürlich keine ganze Partei machen.

Wenn man frustrierte Exil-Pirat_innen einbinden will, braucht man eine außerhalb der Partei stehende Organisation. Einen sogenannten Think-Tank, der das linke Profil schärft und ein gesamtgesellschaftliches Konzept der Piraten und ihnen nahestehender sozialer Bewegungen aufzeigt, gleichzeitig aber ökonomisch und personell teilweise unabhängig agiert. Der Positionen entwickelt, an der sich die Partei orientieren kann, ohne dass sie das akademische Wissen, das dahintersteht, individuell sich aneigenen muss. Der Strukturen im Kleinen entwickeln kann, ohne sich durch ständige Querschüsse aus anderen Crews und Flügeln ablenken zu lassen. Eine Initiative letztendlich, die alle wichtigen gesellschaftlichen Akteur_innen an einen Tisch bringen kann, und dabei moderierend wirkt, ohne die politische Zielrichtung aus den Augen zu lassen. Das Konzept einer parteinahen Stiftung, eines Vereins, eines Think-Tanks, einer Initiative mag elitär sein. Aber mal ehrlich: dieser elitären Prägung seid ihr durch eure Rockstars in viel beschissenerem Ausmaße schon lange aufgesessen. Diese Form der Theoriearbeit, der Schaffung von praktischen Handlungsempfehlungen und der Analyse des Kenterns bindet unglaublich wichtige Menschen an euch: die linken Kräfte, die schon seit Monaten und Jahren ausgetreten sind oder über den Austritt nachdenken oder nie dabei waren. Ihr wisst wen ich meine. Deren kluge Gedanken ignoriert wurden, deren Personen attackiert wurden, deren Aktivismus blockiert wurde. Teilweise bis zur seelischen und körperlichen Selbstaufgabe. Genau deshalb muss es auch eine tragfähige Organisation sein. Wer dort arbeitet, muss dafür bezahlt werden. Das ist keine Freizeit, jedenfalls nicht für die, die ihr Studium lang geschuftet haben und nun vor der Wahl zwischen intensiver und grundlegender politischer Arbeit stehen oder Lohnarbeit, um sich zu ernähren. Bis zur Einführung des bedingungslosen Grundeinkommens (oder der sozialen Revolution) muss diese Arbeit in bezahlten Stellen geleistet werden.

Ich würde gerne in so einer Organisation gestaltend tätig sein. Meine Qualifikation in politische Arbeit einbringen. Und ich weiß, dass es vielen Menschen ähnlich geht, und dass sie mitziehen würden. Wenn wir ein starkes linkes Netzwerk aufbauen, dass den gesellschaftlichen Diskurs wieder in eine emanzipatorische Richtung verschiebt – auf parlamentarischer und außer-parlamentarischer Ebene – dann bleibt es auch nicht bei 2.2% für die Piratenpartei. Wenn in den kommenden Debatten eine kluge und moderne Wortführung übernimmt, dann hat man tatsächlich gestalterisches Potential.

Gerade in einer Zeit, in der die CDU nahezu die alleinige Macht hat, in der alles auf Law, Order and Economy hinausläuft, in der Sicherheitsarchitektur jede Dystopie der vergangenen überschatten wird und sich damit in einem internationalen Konsens der Machtsicherung bewegt, gerade da muss man anfangen, starke linke Alternativen aufzubauen. Dabei haben die Piraten das Potential, sich in eine starke Bewegung einzubinden, indem sie unterschiedlichste Gruppen und ihren gesellschaftlichen Input aufnehmen: Linksradikale, denen interessante Basiskonzepte erschließen; Linke, die sich nur schwer gegen alte SED-Genoss_innen und K-Gruppen-Kader_innen durchsetzen können; Grüne, die ihre zentralen Politikfelder verloren haben und die Bürgerlichkeit der Partei ablehnen; Sozialdemokrat_innen, denen die SPD zu beliebig geworden ist; Sozialliberale, die seit Jahrzehnten in der FDP nur noch Randfiguren waren.

Mein Tee ist getrunken. Der Hund schläft. Am Ende des Wahlabends steht mein fieberhaftes Zittern, dass die Rechtspopulisten der AfD den Einzug nicht schaffen. Und die CDU keine stabile absolute Mehrheit bekommt. Nochmal Glück gehabt. Aber wenn wir nichts unternehmen, läuft es beim nächsten Mal nicht so glimpflich ab.

Wer sich am Aufbau eines links-emanzipatorischen Think Tanks beteiligen möchte, kann sich gerne bei mir melden.

 

Ich bin nicht auf dem #29C3. Das ist vielleicht die wichtigste Vorbemerkung zum Artikel. Ich sitze in Berlin in der C-Base und schaue mir die Live-Streams an, folge vielen Menschen, die vor Ort sind, auf Twitter und lese nachbereitende Blogartikel.

Dieses Jahr ist das Thema Sexismus, was auf den letzten Kongressen, für viele wahrscheinlich unterschwellig, schon immer anwesend war, sehr präsent. Vor allem, weil es halb-organisierte Strukturen gibt, die systematisch Übergriffe jeder Art, deutlich anprangern und Verfahrensweisen vorschlagen (die rot/gelb/grünen Karten z.B.). Das ist, so weit ich es beurteilen kann, eine gewachsene, aber insgesamt neue Qualität. Folgender Effekt: es gibt nicht mehr (Alltags-)Sexismus als vorher, er wird nur durch die kontinuierliche Arbeit offensichtlicher. Das fühlt sicher bei vielen zu einem gefühlten Ansteigen und den vor der Brust verschränkten Armen: „Kann ich mir gar nicht vorstellen, dass das so schlimm ist, war doch bisher immer entspannt.“ Nein, war es nicht. Der Kongress ist, im Großen und Ganzen, ein Abbild der Gesellschaft. Und die ist nicht entspannt.

Haupt- und Nebenkonflikt?

Eine Hackerbewegung ist mehr als nur ein einziger gesellschaftlicher Kampf, viel mehr besteht er aus vielen Konflikte, die überall ineinandergreifen. Wenn man sich den Fahrplan des Kongresses anschaut, dann sieht man, das es um Datenfreiheit, um Transparenz, um Anti-Militarismus und um vieles mehr geht. Die Besucher_innen lassen sich darauf ein, bauen ein konstruktiven Diskurs über die Konfliktfelder auf, wägen Pros- und Contras ab. Bei Sexismus scheint das nicht zu passen, es werden Fronten aufgebaut, weil man(n) sich in seiner Persönlichkeit angegriffen fühlt – weil die Konflikte, die sonst ganz abstrakt behandelt werden, auf einmal extrem real sind? Weil man nicht auf der Seite der Guten (?!) steht? Weil der eigene Lebensentwurf komplett in Frage steht? Ganz ehrlich: tut er nicht. Es ist großartig, was die netzpolitische und Hacker-Bewegung auf der Welt leistet. Viel mehr als alle anderen sozialen Bewegungen hat sie ihr Wissen genutzt, um die Bedingungen zu verändern mit Annahmen, die auf gesellschaftlichen Idealen basieren. Der Schritt zum antisexistischen Verhalten ist da nicht weit. Die Auflösung von Privilegien und/oder Diskriminierung aufgrund von unterschiedlichen körperlichen oder sozial-konstruierten Geschlechtern (sex & gender) ist ebenso ein gesellschaftliches Ideal. Die bestehenden Verhältnisse gilt es zu hacken. Das heißt nicht, dass man mit allem, was an Input aus der feministischen Bewegung kommt, konform gehen muss. Aber wenn man konstruktiv damit umgehen will, muss man sich zwangsläufig erstmal mit dem eigenen Verhalten beschäftigen. Das heißt, man muss auf Augenhöhe kommen, und das tut man nicht, in dem man aktiv durch den eigenen beschissenen Humor Menschen herabwürdigt und ihnen das Gefühl gibt: „Verpiss dich aus meinem Revier.“ Und das macht man auch nicht, indem man passiv solches Verhalten stützt. Das Jeopardy der gestrigen Nacht hat beides sehr gut vor Augen geführt. Der Idiot auf der Bühne. Eine schweigende Masse. Und die tollen Menschen, die es begriffen haben und gleichzeitig den Sinn der CreeperCards sehr schön demonstriert haben: als simples Zeichen für „Es ist Zeit, deine Fresse zu halten, einen Gang runterzuschalten und die Situation zu reflektieren.“ Es ist kein weiter Weg, diesen Schritt nach vorne zu machen und es ändert euer Leben nicht. Aber es macht das Leben im Endeffekt schöner. Eigentlich braucht man diese ganzen Privilegien nämlich nicht.

Wenn man erstmal auf dem Niveau angekommen ist, dass die Basics aktzeptiert werden und man sich hinsetzt und anfängt zu reden statt zu haten, dann kann man weiter gehen. Dann kommt man sicherlich auf Konfliktpunkte wie eine weitgehend akademische Sichtweise des Feminismus in der Hackerbewegung, auf die Frage nach Praktikabilität in sozialen Kämpfen, nach Modalitäten, nach Ausfransungen, man kommt zu all den kleinen Debatten, die ansonsten auch im Feintuning die restlichen Kongressthemen bestimmen. Frei nach Refpolk im Song „Einige meiner besten Freunde sind Männer„: Sieh mich als ein Prozess voller Zweifel am Keyboard, denn Befreiung heißt für mich auch die Suche nach Alternativen zum „Mann“. Wenn man aber keinen gleichberechtigen Raum zur Diskussion zur Verfügung stellt, dann kann man auch nicht erwarten, dass irgendwer darauf Bock hat sich auf eine Debatte einzulassen, in der man konstant als geringwertig eingeschätzt wird. Ich selber bin kein Feminist. Aber ich hab sehr schnell kapiert, dass mir niemand in meinen bevorzugten politischen Tätigkeitsfeldern zuhört, wenn ich nicht bereit bin, mich an einem bestimmten Grundkonsens zu halten. Und die Perspektive hat mir bisher nur Gutes gebracht in meiner kritischen Reflexion von Macht, Herrschaft und Gesellschaft. Das wirkt sich auch positiv auf die politische Arbeit in anderen Bereichen aus. Bildet euch, bildet Banden.

Atmosphäre der Angst

… und dann ist da noch die Sache mit den Idioten, die meinen, eine Gegenbewegung starten zu müssen. Ihre Männlichkeit, ihren guten Ruf, ihre gesellschaftlichen Privilegien zu verteidigen, indem sie die Realdaten von Aktivistinnen im Netz veröffentlichen. Das verunmöglicht jede Form von konstruktivem Diskurs. Es wird ein Atmosphäre der Angst erzeugt, die Menschen davon abhält, sich zu äußern. Ich habe lange überlegt, ob ich Bock darauf habe, zu dem Thema etwas zu schreiben, weil die Chance nicht klein ist, dass ich auf irgendeiner „femnazi watchblog liste“ (wtf?!) lande.  Das Veröffentlichen von Daten ist ein politisches Kampfmittel. Es macht in meinen Augen Sinn, um z.B. Nazistrukturen offensichtlich zu machen und ihnen den gesellschaftlichen Raum zu nehmen. Es ist aber ein Mittel, dass mit Vorsicht eingesetzt werden muss. Es richtet sich ganz eindeutig gegen solche, die noch mehr mit ihren konkreten Aktionen als mit ihrem politischen Handeln Menschen in ihrem Leben bedrohen. Feminist_innen durch die Aktionsform damit gleichzusetzen ist einfach nur widerlich. Damit stellen sich die femwatch-Leute auf eine ähnlichen Stufe wie Neonazis, die das Bedrohungsszenario im Rahmen ihrer Anti-Antifa-Aktivitäten aufbauen und mit ihrer Veröffentlichung von Daten oft die Drohung mit körperlicher Gewalt verbinden. Und wie lange soll es bitte schön dauern, bis in der wertgeschätzten Anonymität des Kongresses dieser Schritt getan wird, ergo: es ist nur noch einer kleiner Schritt, um die veröffentlichten Personen zum Freiwild zu erklären und zum Abschuss freizugeben.

Not my department?

Es geht alle etwas an. Der Kongress sollte barrierefrei zugänglich sein und das Kongressmotto agiert dabei wunderbar als Aufforderung an den CCC selber und an die Besucher_innen. Barrieren gibt es genug, im körperlichen, in den Köpfen, in den Herzen. Es wird daran gearbeitet, diese Barrieren abzubauen und Kongress, Bewegung und Gesellschaft ein ganz kleines Stück angenehmer und herrschaftsfreier zu gestalten. Denkt darüber nach. Steht dem nicht im Weg. Ändert euch. Helft, wo ihr könnt. Denkt nochmal drüber nach. Und dann, wenn ihr wollt, bringt euch in die Debatte ein.