"STOP DEPORTATION" by David Trattnig [CC BY-NC-SA 2.0]

„STOP DEPORTATION“ by David Trattnig [CC BY-NC-SA 2.0]

„Hast du schon ‚mal drüber nachgedacht, wo sie parken werden, wenn sie dich abholen?“, fragte Anna nachdenklich.
     „Keine Ahnung. Ist eine enge Straße. Aber in der Nacht ist nicht viel los. Wahrscheinlich blockieren sie einfach die Straße. Sollte ja auch nicht lange dauern. Im Notfall parken sie auf der Fläche vor dem freistehenden Plattenbau gegenüber.“ 
     Ich blickte auf den freigelegten Putz der Kneipenwand. Hier war noch alles normal. Anne bestellte sich ein weiteres Bier und wendete sich wieder zu mir. „Frag mich halt, wie das ist. Ob wir sie kommen hören. Ob wir ’s verdrängen. Ob es schon zu spät ist. Ob wir hätten gehen sollen.“
     „Ich weiß was du meinst. Mir macht das alles Angst“, antwortete ich ihr mit leiser Stimme.

 

Es ist schwer, einen konkreten Beginn zu finden. Der Hass war auf einmal wieder da. Vielleicht war auch nie weg.
     Das erste Mal hatten wir Angst, als die Menschen, die in Deutschland Schutz suchten, erneut flüchteten. Aus Hellersdorf. Sie hatten furchtbare Angst vor den Menschen, die sich vor dem, was ihre Heimat für die nächsten Wochen und Monate werden sollte, anschrien. Sie verstanden nicht, sie sahen nur die Wut und die Abscheu. Sie verstanden auch nicht diejenigen, die ihnen helfen wollte, weil sie genauso schrien. Sie flohen aus Hellersdorf, umringt von Menschen, die sie bedrängten zu bleiben, umringt von Menschen, die sie bedrängten zu gehen. Zwischen mit Kreide gemalten Slogans und Blumen die Scherben der Flaschen, die Nazis auf sie warfen. Danach kam Ulli Zelle in der Liveschaltung.
     In Hellersdorf hatten wir noch Angst. In Schneeberg waren wir wütend. Und dann hörte es wieder auf. Und wir beruhigten uns. Redeten uns ein, mit guter Kampagnenarbeit könnten wir hier schon was reißen. Das sind nicht ’90er, titelten die linken Wochenzeitschriften. Die einen sagten, es ist alles gar nicht so schlimm. Die anderen sagten, es sei noch viel schlimmer, aber die Nazis seien nicht das Problem. Alle hatten sie unrecht. Es ist nicht schlimmer, oder weniger schlimm. Es ist anders. Die Nachrichten steigerten sich. Aus dem Tröpfeln der Schmierereien, der Böllerwürfe, der Stein- und Flaschenwürfe wurde ein seichter Strom. Überall im Land rassistische Proteste derjenigen, die allen Anstand vergessen hatten. Die Welt war nicht zu Gast bei Freunden. Kameraden marschierten überall mit, verstärkten die ohnehin grausamen Gedanken. Schlimmer als die Parolen auf den Unterkünften waren die kurzen Sätze in den sozialen Netzwerken. In schlechter Rechtschreibung gaben sie ihrer Fantasie eine Form. Wünschten sich die Öfen von Auschwitz her, wollten Menschen brennen, wollten morden. 
     25 Jahre nach dem Mauerfall war die Einheit da. Sie zog sich über jede regionale Grenze, keine Mauer stand im Weg, der Hass bahnte sich seinen Weg von Ost nach West. In Frankfurt an der Oder jagte man Geflüchtete mit Baseballschlägern, in Frankfurt am Main schoss man mit dem Gewehr auf sie. Die Nachrichten wandelten sich zu einem staccato. In den großen Städten brannten jetzt täglich die Unterkünfte. Die Behörden, die den Betreibern die lukrativen Betreuungsaufträge für einen netten Betrag zuschoben, kamen nicht mehr hinterher. Für jede Unterkunft, die sie bauten, brannte eine vollständig aus. Die Geflüchteten selber kamen aus den großen Auffanglagern, die die Mordbrenner in Jemen und Syrien angriffen und zerstörten, in ebenso große Auffanglager in Berlin, Köln und Hamburg. Traglufthallen sollten vor dem Winter und dem Eis schützen. Wohncontainer für 50 Jahre den steigenden Zahlen an Schutzsuchenden  gerecht werden. Es war, als ob niemand mehr daran glaubte, dass die Situation auf der Welt jemals wieder besser werden würde. Und wahrscheinlich haben sie recht.

 

Die Mahner der Nation starben in diesen Tagen und mit ihnen die Furcht vor der Vergangenheit.
     Der große Literaturkritiker, der in seinen letzten Tagen noch vor dem Bundestag stand und von der Unmenschlichkeit der Deutschen berichtet, von dem eigenem Zerreißen, von dem Tod, dem Mord, der Flucht, dem zufälligen Überleben. Mit ihm sterben die letzten Zeugen der Barbarei. Die letzten derer, die uns vermitteln konnten, wie sich das Unaussprechliche angefühlt hat. Die sich in die Klassenräume setzten und von Anne Frank berichteten, von Bergen-Belsen. Die uns durch das Lager von Auschwitz führten, die Knochensplitter aus der vom Regen aufgeweichten Erde holten. Das Zeugnis der nächsten Generation sind einzig Videos von Ihnen, Aufnahmen oder Texte. Keine Möglichkeit der Frage, keine einfühlenden Antworten, die auf das kindliche Verstehen dessen, was kein Erwachsener mehr wahrhaben wollte, abzielten.
     Und der Konterpart. Der literarische Moralist, der aus der Position des Täters heraus die Mahnung sprechen ließ, gleichwohl lange Zeit ohne das Bekenntnis, Täter zu sein. Mit ihm starb eine starke Generation, die den Scham über sich selbst in Wut gegen den Faschismus wandelte. Man kann dazu stehen wie man will, aber genau das war der Grundpfeiler der bundesrepublikanischen Demokratie: schamvolles Schweigen und heuchlerischer, lauter Protest. Als Gruppe47 verlegen um jede gemeinsame Positionierung, aber geeint in eben jener Scham. Dem klugen Rat, nach Auschwitz kein Gedicht mehr zu schreiben nicht folgend. Nach Auschwitz dieses eine Gedicht zu veröffentlichen, ein Affront. Aber es waren er, der seinesgleichen unter Kontrolle hielt. Dessen Renommee dem deutschen Volk den Grund gab, ihm zu glauben, seine Moral an – und abzunehmen. Moralische Führer, ganz wie sie es gelernt hatten, als letzte Instanz. Sie starben seit Sarrazin tagtäglich.

 

„Aber das alles war so weit weg“, seufzte Anna als sie den Blick von dem mit dickem Bleistift beschriebenen Papier hob. „Insgeheim waren wir doch froh, dass wir nicht in der selben Situation wie die armen Teufel waren. Hätte doch niemand von uns gedacht, dass uns das mal treffen könnte. Ich weiß noch, müsste um 2015 gewesen sein. Da hab‘ ich doch gerade über meiner Bachelor-Arbeit geschwitzt. Kam mir eigentlich ganz gelegen, die ganzen Ereignisse.“
     „Ich erinnere mich“, erwiderte ich nachdenklich, „du hast über ‚Frauen in der Extremen Rechte: authentische Politakteur_innen in der rassistischen Mobilisierung gegen Asylbewerber‘ geschrieben. Ich fand ’s gut, dass du das gemacht hast. Ich glaube, ich hab vieles besser verstanden dadurch.“
     Anne seufzte: „Ja, und es hat mir komischerweise Spaß gemacht. Aber ich glaube, das hat mir den Blick darauf versperrt, was da noch kam.“ Sie legte selbst ein Blatt Papier hin.

 

Die Kommentarspaltenschreiber dieses Landes waren eine große, graue und unberechenbare Masse. Das Internet war längst nicht mehr das Werkzeug der besseren Gesellschaft, der Gleichheit und der moralischen Freiheit. Es wurde zum Abbild der Gesellschaft, geprägt durch alle ihre Teilhaber, kommentiert durch Medien, geordnet durch den Staat. Und gerade der Staat verhielt sich ähnlich irrational im Internet, wie er es schon in dem Rest der Welt tat: während jahrelang Hausdurchsuchungen und Beschlagnahmungen das Handeln gegen diejenigen Nutzer, die auf das Nutzungsentgelt für digitale Produkte verzichteten, prägten, fühlte er sich für die Hetze, das Anstacheln, die Drohungen und Mordfantasien nicht mehr zuständig. ‚Die Server stehen im Ausland‘ hörte man oft dieser Tage. Die gleichen Server, die für die Verfolgung von unlizensierten Downloads noch ohne Weiteres im Einzugsbereich der Polizeibehörden waren.
     Aber der Staat war nicht nur da kraftlos und desinteressiert. Über ein Jahrzehnt zog eine Zelle von konspirativ agierenden Nazis durchs Land und brachte 10 Menschen um. Schnell wurde klar: die organisierten Nazis wussten, was ihre Kameraden taten. Sie unterstützen wo sie konnten. Und sie waren nicht alleine. Immer wieder gab es Berührungspunkte zu Polizei und dem Verfassungsschutz. Eine endgültige Aufklärung blieb aus. Und während der Öffentlichkeit der Atem stockte ob dieser Ungeheuerlichkeit, die vor dem modernsten Polizeiapparat Europas stattfand, fürchteten die Nationalsozialisten die Konsequenzen. Aber es kamen keine.
     Sie blieben unbehelligt. Einige wenige wurden zu langjährigen Haftstrafen verurteilt, in denen sie von Hilfsorganisationen materiell und ideologisch betreut wurden. Ein Verbotsverfahren gegen die wichtigste nationalsozialistische Partei scheiterte ein zweites Mal, weil die Behörden nicht nachweisen konnten, dass sie keinen Einfluss auf die radikalisierende Entwicklung der Partei genommen hatten. Weitere Zellen blieben unentdeckt und agierten weiter, erschossen Menschen auf offener Straße, rammten ihnen Messer in den Leib, krachten mit ihren Autos in sie hinein. Entkamen unerkannt.
     Aber nicht nur sie blieben unbehelligt. Es gab auch solche, die ihre Abneigung gegen alles Fremde nicht in einen ideologischen Kontext einordnen konnten oder wollten. Sie waren gegen Salafisten, gegen den Islam, gegen Terroristen. Wussten nicht, was das genau bedeutet. Aber sie wussten, dass sie sich heroisch der Gefahr entgegenstellen wollten, von der sie im Internet und im Boulevard gelesen hatten. Sie brachten mit, was anderen fehlte: den Willen, zuzuschlagen, den Aufstand zu proben. In Massen als Hooligans, in kleinen Gruppen als rechte Schläger. Sie meldeten Demonstrationen an, die ganz offen den Willen formulierten, ihre Feinde zu einem Kampf herauszufordern, auf offener Straße. Sie gründeten Vereine, die ihnen Struktur geben sollte.
     In einigen Bundesländern durften diese Vereine polizeiliche Aufgaben übernehmen mit der Zeit. Ihre Mitglieder arbeiteten oft in der Sicherheitsbranche, wussten mit Konflikten umzugehen, so die Argumentation der Behörden in Brandenburg. Zudem habe man im Landeshaushalt kein Geld für mehr Beamte und wolle das Sicherheitsgefühl der Bürger, das durch die gestiegenen Asylbewerberzahlen getrübt sei, wieder erhöhen. Die rechten Straßenkampftruppen erhielten ihren öffentlichen Ritterschlag. Unter dem Druck der Privatisierung gingen bald weitere Bundesländer dazu über, die Dienste der findigen Hools in Anspruch zu nehmen. Es steckte viel Geld dahinter. Aus den populistischen Hooligans wurde bald eine privates Unternehmen mit polizeilichen Befugnissen. Als Privater Sicherheitsdienst (PSD) erschlossen sie strategische Stellen der öffentlichen Sicherheit.
     Gleichzeitig jedoch entwickelten sich die politische Landschaft. Während sich auf einigen Straßen die PEGIDA-Bewegung formierte, kämpfte die AfD um die Parlamente. Ihr vereintes Potential war gewaltig, gestützt durch gezielt agierende und unterwandernde Nationalsozialisten, die jede innerparteiliche Blockade nach Rechts am Ende öffnen konnte. Wir haben viel darüber geschrieben, wo ihr Erfolg herkam. Eine Generation von Bundeswehrsoldaten hat ‚den Araber‘ und den ‚Islam‘ als Feind kennen- und hassen gelernt. Virale Videos von Enthauptungen liefen über die Handybildschirme, wurden über ‚Antworten an alle‘-Mails empört an ganze Firmenbelegschaften geschickt, vor der süßen Katze und nach dem schreienden Baby. Keiner wusste, was der Islam war. Aber alle wussten, dass er zu ISIS und den Salafisten gehörte und deswegen in Europa nicht sein durfte. Oder in Deutschland. Lieber in Deutschland. Während Houellebecq für das Nachbarland verzweifelt auf den Sieg einer muslimischen Partei hoffte, um Absolution von der Tendenz der Franzosen zum Front National zu erhalten und sei es auf Kosten der jüdischen Bevölkerung Frankreichs, siegten die Rechten vor wenigen Tagen in Deutschland, als sie sich endlich zusammenraufen konnten.

 

„Klingt gut“, sagte ich und las ihren und meinen Flugblattentwurf zusammen durch. „Fehlt nur noch der Teil von Tessa.“ Ich schaute unruhig zur Tür, wir waren vor einer halben Stunde verabredet. Als mein Blick zurück zu Anna wanderte, sah ich sie mit entsetzten Augen auf ihr Smartphone starren. Stockend las sie eine Twitter-Nachricht vor: “ … und der private Sicherheitsdienst nahm sieben Personen fest. – …. Aufenthaltsort unklar.“ Uns wurde flau im Magen. Tessa war sonst nie unpünktlich.
     Wir trafen uns an dem Abend mit 500 weiteren Menschen vor dem ehemaligen ICC in Berlin. Aus den großen Hallen hatten die Hools große Freilufthallen eingerichtet. Sie wurden lange Zeit als Abschiebegewahrsam genutzt, als Zugeständnis der Regierung an die wachsende rechtspopulistische Bewegung wurden damals im Schnellverfahren mehrere zehntausend Menschen mit schweren Bundeswehrmaschinen aus dem Land deportiert. Danach stand das ICC leer. Als wir jetzt nach einem Tipp der Hauptstadtpresse uns vor den Toren versammelten, standen uns grimmige, aufgepumpte Männer mit schwarzen Hoodies gegenüber. In ihre Hände ließen sie Schlagstöcke klatschen. Im Hintergrund sahen wir, wie mehrere große Transporter auf das Kongressgelände einfuhren. Die Landespolizei suchte währenddessen krampfhaft nach einem Anmelder der unangemeldeten Demonstration. Anna und ich stellten uns an den Zaun und versuchten zu erkennen, was vor sich ging. Die Smartbrille, die ich seit einiger Zeit trug, zoomte auf die Transporter. Aus ihnen wurden mehrere Menschen mit schwarzen Säcken über dem Kopf herausgeführt. Ich versuchte Details zu erkennen, aber die Dunkelheit macht mir vorerst einen Strich durch die Rechnung. Erst als sie ins Flutlicht, das auf den Hallen montiert war, traten gelang es mir, ein besseres Bild zu erlangen. Erstickt schrie ich auf.
     „Ist das Tessas Armband?“, fragte ich Anna und übertrug das Bild an ihre Uhr. Sie schaute mich entsetzt an und nickte. Ich brüllte: „Tessa, Tessa!“ Eine der gekrümmt und eingeschüchterte aufgereihten Gestalten begann sich zu bewegen. Ich hörte Tessa, ihre Stimme. Zum vorletzten Mal.
     Sie schlugen sofort zu. Das Blut tropfte auf den Boden und dampfte im Flutlichtschein. Danach wurde sie in die Halle geschleift.

 

Ein Anmelder hatte sich nicht gefunden. Einige Reporter mit Headkameras waren inzwischen am Ort aufgetaucht und berichteten auf ihren YouTube-Kanälen live vom Ort des Geschehens. Die Landespolizei wurde zunehmend unruhig, die Riotcops, die schwer gepanzert in dunkelgrünen Uniformen lange Reihen um die Kundgebung herum zogen, wippten nervös von einem Fuß auf den anderen. Wir tauschten uns mit anderen Menschen aus, viele hatten ähnlich wie wir jemanden wiedererkannt. Es wurde ruhiger. Viele holten ihre Handys raus, ihre Tablets oder andere Displays, die sie dabei hatten. Jemand hatte von seinem Arbeitsplatz kurzerhand eine App entworfen und hochgeladen, wir installierten sie, dann hielten wir die Geräte in die Höhe. Die Namen der sieben Gefangenen erschienen darauf und ihre Fotos. Schweigend standen wir für zehn Minuten da. Dann begann jemand zu rufen: „Wir sind nicht alle / es fehlen die Gefangenen“. Wütend stimmten wir mit ein. Wir waren nicht alle. Es fehlte Tessa. Uns fehlte Tessa. Der Bewegung fehlte Tessa.
     Auf einmal wurde es wieder still. Absolut. Selbst die Polizisten hielten den Atem an, nur das leise Knacken der Pre-TETRA-Funkgeräte erinnerte daran, dass sie da waren. Wir alle hörten die Schreie. Aus den Hallen drangen Laute der Angst und des Entsetzens, der unbändigen Furcht. Wir hörten, wie Körper geschunden wurden. Wir hörten, wie Seelen gebrochen wurden. Dann Stille. Das war das letzte Mal, dass ich Tessas Stimme hörte.

 

Die Stille währte ewig. Dann brach sich der kollektive Schmerz und Zorn seine Bahnen. Hunderte Menschen rüttelten an dem Zaun des Kongressgeländes.  Gleichzeitig hektische Diskussionen unter den Polizisten. Einige traten aus der Reihe, bewegten sich auf die PSD-Hools zu. Und dann brach die Hölle los. Polizisten schlugen auf Polizisten ein, zerrten ihre Körper aus der Demonstration. Die Hools prügelten durch den Zaun auf die Menschen ein, von denen einige inzwischen Steine in der Hand hatten und gegen Polizisten und über den Zaun warfen. In Sekundenschnelle schwebten über der Ansammlung mehrere Drohnen, die in großen Wolken Pfefferspray ausstießen.
     Die Polizisten zogen sich daraufhin zurück, waren am Ende nicht mehr zu sehen. Ich tastete mich durch die Menge und rief Annas Namen. Inzwischen waren die Hooligans vom Gelände runtergekommen und hatten sich die in die protestierende Menge geworfen. Ich hörte „Valhalla“-Schreie und knackende Knochen. „Artur, komm. Wir müssen abhauen“, hörte ich eine vertraute Stimme neben mir. Ich griff Annas Hand und ließ mich wegziehen, durch einen Nebel aus Tränen und Rotz konnte sah ich, wie die Menschen in alle Richtungen flüchteten. Schwere Motoren heulten auf. Das typische Fiepen eines langsam vorwärts fahrenden Wasserwerfers ließ uns in die entgegengesetzte Richtung ausweichen. Schüsse fielen aus der Richtung des Kongressgeländes. Menschen schrien. Ein lauter Ton begann anzuschwellen. Die sonic weapon ließ mich erbrechen, mir wurde schwindelig. Dann schwarz.

 

Ich wachte in der S-Bahn auf. „Artur, Mensch Artur, komm zu dir“, hörte ich Anne in Panik. Sie schlug mir immer wieder auf die Wangen. Ich musste mich erneut übergeben. Angewidert schauten die Menschen in der S-Bahn auf uns herab. „Scheiß Zecken!“, pöbelte ein Anzugträger. Anna ließ sich nicht beirren. „Fuck, Artur ey. Was war das da draußen?“ Mir fiel keine Antwort ein.
     Ich blieb die Nacht in Annas WG. Auch den nächsten Tag. Ihre Partnerin, Lena, kam vorbei und brachte uns einige Lebensmittel. Sie war Anwältin und hatte einige Insideransichten zu den vergangenen Tagen. Einige Personen waren überall im Land verschwunden. Der PSD hatte weitreichende Befugnisse zum Schutz der Regierungsparteien bekommen. Der Verfassungsschutz musste ihm per Verordnung seine Datenbanken und Akten öffnen und hatte die weitreichende Informationssammlung über oppositionelle Aktivisten übergeben. Tessa und die anderen sechs Gefangenen waren nur die Spitze des Eisbergs. 300 der Demonstrierenden wurden von der Polizei festgenommen. Lena wollte mit ihren Mandaten reden, wurde aber von der Polizei darauf hingewiesen, dass ein Unterbindungsgewahrsam bis zu 72 Stunden dauern könnte. Eine anwaltliche Vertretung sei in der Zeit nicht nötig, da ihnen keine Straftat vorgeworfen werde und es sich nicht um strafprozessuale Maßnahmen handeln würde.
     Ich war froh, dass Anna mich dort rausgezogen hatte. Die dreihundert Demonstranten wurden in der Mordstube des PSD untergebracht. Überall in Berlin wurden in ehemaligen Containerlagern und Schulen diese spontanen Haftanstalten durch den PSD ausgehoben. Manchmal nur für wenige Stunden, manchmal für den ganzen Tag. Zitternd versuchte ich den Tag über, Essen zu mir zu nehmen. Aber beim Gedanken an Tessa, an ihre Schreie zog sich alles in mir zusammen. Keinen Bissen brachte ich runter. Ich war geschwächt. Eine Freundin hatte sich um den Hund gekümmert, aber sie hatte mir geschrieben, dass sie zu ihren Verwandten nach London reisen würde, spontan und ich deswegen heute Abend wieder bei Sam sein müsse. Anna und Lena verabschiedeten sich lange von mir. „Pass auf dich auf. Wir sollten hier weg. Nächste Woche raus aus Deutschland. Israel vielleicht, ja?“, flehte Anna. Ich nickte. Ja, wir mussten hier weg. Aber doch nicht Hals über Kopf. „Wir brauchen jetzt erstmal Ruhe, Anna. Machs gut, Lena.“, sagte ich. Dann ging ich zur Tür raus. Tessa hatte sicher nichts, was sie mit uns in Verbindung brachte. Wir hatten drauf Wert gelegt, alle Kommunikation nicht digital zu halten. Unsere Leben hatten offiziell nichts miteinander zu tun. Hoffentlich.

 

Der Weg nach Hause kam mir surreal vor, wie in Trance saß ich in der S-Bahn und blickte in die untergehende Sonne. Auf den Nachrichtenschirmen kamen Neuigkeiten aus der Welt der Prominenten, etwas Tech-News und nach Spanien hatte nun auch Ungarn einige der Menschenrechte für Affen eröffnet. Nichts über das ICC, nichts über die Festnahmen. Aber das war bei Demonstrationen nicht ungewöhnlich. Über die letzten Jahre hatten die Menschen in über 1000 Demonstrationen pro Jahr in Berlin für und gegen alles Mögliche demonstriert. Meistens war es nicht mehr als eine Randnotiz in den Medien wert. Das Tessas Schicksal ein außergewöhnliches, empörendes, alarmierendes sei wurde mir erst Minuten später bewusst. Lag es am Schock oder war ich wirklich schon so abgestumpft, dass eine meiner engsten Bezugspersonen … ?
     Aus Gewohnheit schaute ich noch auf die Seite der New York Times. Dort war die Lage in Deutschland, anders als hier in dieser friedlichen S-Bahn nach dem Feierabendsverkehr im Sonnenuntergang, Aufmacherthema. Mehrere Redaktionen wurden durch den PSD umstellt und durchsucht, darunter das Neue Deutschland und die taz, aber auch die Berliner Zeitung, die Süddeutsche Zeitung und der Spiegel. Alle Mitarbeiter wurden durch fototechnische Drohnen biometrisch erfasst und dann selektiert: das Büropersonal konnte nach Hause, ihnen wurde mitgeteilt, sie sollen sich eine neue Arbeitsstelle suchen. Die Redakteure wurden in das ICC gebracht. Eine Sprecherin der PSD gab an, dass durch die „Lügenpresse“ (das Wort wurde im amerikanischen Artikel nicht übersetzt) eine Verschwörung vorbereitet wurde, Deutschland unter europäische Zentralregierung zu stellen und so die nationale Souveränität abzuschaffen. Auch Reporter mehrerer ausländischer Medien wurden festgenommen, außerdem viele Blogger und Netzaktivisten. Die sozialen Medien waren wie leergefegt. Von meinen Kontakten war niemand aktiv, die wenigen deutschen Nutzer waren rechte Sympathisanten, die von dem effektiven Schlag gegen „Antifanten, Meinungsterroristen und Gutmenschen“ schwärmten. Ich beendete die Programme, bevor ich wieder erbrechen musste.
     In meinen E-Mails häuften sich besorgte Nachfragen zu meiner Verfassung. Einige Freunde aus den USA wollten Informationen aus erster Hand haben und wussten, dass ich politisch interessiert war. Interessanter allerdings waren meine ehemaligen Kollegen aus dem jüdischen Kindergarten, in dem ich ein Praktikum absolviert hatte. Sie waren schon vor über einem Jahr nach Israel ausgewandert, erst „für wenige Wochen, bis es sich beruhigt“, dann sind sie doch länger geblieben. Als wir damals vor ihrer Abreise uns auf ein Bier trafen, hatten wir ein langes Gespräch: „Das ist doch nur eine Phase“, meinte ich damals. „Am Ende kommt ein Aufstand der Anständigen und dann ist alles wieder genauso Scheiße wie vorher. Die Bürgerlichkeit lässt sich nicht zweimal durch die Faschisten überrumpeln.“ – „Die deutsche Bürgerlichkeit braucht sich nicht überrumpeln lassen. Sie integriert den Faschismus genauso wie antisemitischen Islamismus und am Ende auch den Protest dagegen. Sie pflegt ihnen in einen Verein und gibt ihm einen Kleingarten. Und am Ende nennt sie es kulturelle Pluralität. Mord ist der Rosshaarpinsel des deutschen Gemäldes. Es ist mit Blut gemalt. Hoffen wir, dass deines nicht dazu kommt“, entgegnete Joshua, mein ehemaliger Kollege. Hoffen wir es.

 

Ich kam in dem Plattenbaugebiet an, dessen Wohnstandard ich mir gerade noch so leisten konnte. Vor der Tür zu meinem Aufgang standen zwei hagere Typen, ich erkannte sie von den Fußballfotos, auf die ich letztens einen kurzen Blick werfen konnte. Wie alle hier im Viertel waren sie große BFC-Fans und in der Nachbarschaftswache des PSD, eine Art unbezahlte Vorfeldorganisation des rechten Sicherheitsdienstes, aus dem er sich die vielversprechendsten Rekruten herauspickte und sie zu bezahlten Mitarbeitern machte. Für jeden jungen Kerl hier im Viertel eine wichtiges Ziel, garantierte es doch Geld und sozialen Status. Neben ihnen die Nachbarin aus dem 3. OG, vertieft in ein Gespräch. Erst als ich die Treppe hochging, bemerkten sie mich. Anklagend zeigte die Nachbarin auf mich: „Den da habe ich letztens mit einem Israel-Aufnäher gesehen. Ein Juden-Freund ist der.“ Der jüngere der beiden Typen hatte eine Liste drauf: „Name?“, rief er mir zu. Ich antwortete irritiert: „Das geht doch doch gar nichts an.“ – „Und ob mich das was angeht. Wer mit Kriegsverbrechern sich gegen unsere Freunde vom palästinensischen Volk wendet, hat hier gar nichts zu melden.“ Ich wollte ihn ignorieren, aber der bisher still gebliebene, größere Kerl machte einen bedrohlichen Schritt auf mich zu und knurrte: „Name!“ Ich bekam es mit der Angst zu tun, dachte, sie wollen mich nun verprügeln. Ich schubste sie aus meinem Weg und hetzte die Treppe hoch, sie rannten hinter mir her, den kreischenden Ton der Nachbarin, der sie befeuerte: „Schnappt euch die Zecke, sperrt den weg!“ Meine Wohnungstür war nur angelehnt, also hetzte ich hinein und warf die Tür ins Schloss. Von draußen hämmerten die Nachbarschaftswächter an die Tür. Mein Hund starrte mich entsetzt und verängstigt aus dem Flur an, er war gerade erst aufgewacht, in seinem Alter schlief er meistens den Tag über durch. Irgendwann hörte das Klopfen und Rufen auf. Sie stellten fest, dass mein Name an der Tür stand und versprachen mir durch die geschlossene
 Tür, dass sie wiederkommen würden. Ich wusste, ich sollte umziehen.
     Die Nacht verbrachte ich vor dem PC, auf der Suche nach Wohnungen. Mit meinem Vollzeit-Gehalt konnte ich mir mehr leisten als viele andere, aber für Berlin würde es trotzdem nicht reichen. Einige Angebote in Anklam waren frei. Ich setzte mir eine Notiz, den Vermieter gleich morgen zu kontaktieren. Aber erstmal musste ich kurzfristig verschwinden. Die Episode an der Tür hatte mir klargemacht, dass ich jetzt handeln musste, sonst würde ich wie Tessa enden. Tessa … sie war … 
     Ich packte einige Sachen, eine Decke für den Hund und ein paar Snacks. Ins Auto setzen, über die Grenze fahren. Warten. Ich schrieb Anna, dass wir morgen früh losfahren könnten, vielleicht zu Freunden nach Österreich. Oder Großbritannien. Sie schrieb nicht zurück. Ich putzte die Wohnung, schaute Nachrichten, surfte im Netz. Das taube Gefühl ließ mich nicht los. Sam starrte mich mit großen und wissenden Augen an. „Ist gut Großer, leg dich wieder schlafen“, flüsterte ich ihm zu, um ihn zu beruhigen. Die Antwort war ein leises, trauriges Winseln. Ich löschte die Lichter und versuchte etwas zu schlafen. Als ich die Augen schloss, sah ich Tessa. Immer wieder Tessa. Dann den schwarzen Haufen, der in die Tür reingezogen wurde. Nach einer Ewigkeit verfiel ich in einen unruhigen Schlafen, in dem sich die Schreie der Sieben mit den Schreien der Demonstranten mischten, durchzogen von den Rufen der PSD-Hools. 

 

Als ich erwachte waren die Rufe immer noch da. „Deutschland erwache!“, schallte es von der Straße. „Hier marschiert / der nationale Widerstand!“ Sam stand neben meinem Bett, stocksteif, mit gespitzten Ohren. Ich tastete nach meinem Handy. Per WhatsApp hatte mir Lena geschrieben: „Sie haben Anna. Hab keinen Kontakt zu ihr. Wollten zu dir weiter. Hau ab!“
     Ich sprang auf. „Shit“, schoß es mir durch den Kopf. Die Rufe waren weit entfernt, aber wer weiß wo die waren, die nicht mehr riefen. Ich versuchte Lena zu erreichen. Als sie ans Telefon ging, schien sie atemlos zu sein, als ob sie gerade gerannt wäre. „Artur! Ich kann nicht lange reden. Die Grenzen sind dicht. Wir kommen nicht mehr weg!“ – „Was ist mit den Flughäfen?“ – „Vielleicht klappt es, um 6 gehen die ersten Flieger. Aber ich muss hier bleiben. Anna …“ – „Tut mir leid, Lena. Man, fuck, das tut mir leid.“ – „Ich weiß. Du musst gehen. Sie wissen von dir. Hau ab, mach schnell, bevor sie da sind. Ey, was ….?“ Die Verbindung brach ab.
     Ok. Flughafen. Letzte Rettung. Mein Gehirn war auf Autopilot. Über die Passbook-App buchte ich ein Flugticket für mich und Sam nach New York. Ich kannte Leute da. Von da wirds weitergehen. Raus aus Deutschland. 780€ wurden von meinem Konto abgebucht. Ich war 500€ im Minus. Scheiß drauf. Tasche in die Hand. Schuhe. Als ich die Tür öffnen wollte, standen draußen zwei grobschlächtige Kerle in PSD-Uniform. „Guten Abend. Sie wissen warum wir hier sind. Kommen Sie freiwillig mit oder müssen wir Sie tragen?“ Ich war fassungslos. Es gab keinen Weg hier raus. Der Balkon war zu hoch. Die kleine Wohnung hatte nur eine Tür und ein Fenster. Keine Chance. „Ich komme mit, Moment. Meine Jacke.“ – „Selbstverständlich“, antwortete überaus freundlich der PSDler. Doch statt die Jacke zu greifen, löste ich die Hauptsicherung aus. In der Wohnung ging das Licht aus, sämtliche Stromkreisläufe wurden unterbrochen. Alle Geräte, die noch angeschaltet waren, hatten jetzt dank TrueCrypt verschlüsselte Datenträger. Wenn sie mich mitnahmen; mehr Infos bekämen sie nicht. An der Verschlüsselung dürften sie sich die Zähne ausbeißen. Ein kleiner Trost.
     „Ein großer Fehler, den Sie da gemacht haben“, kam es aus dem Dunklen. Dann traf mich eine harter Schlag. Ich wurde bewusstlos. Als ich wieder zu mir kam, wurde ich die Treppe runtergeschleppt. Draußen stand die Nachbarschaftswache, die mir bekannten Kerle, die jetzt hämisch lachten. Sie skandierten weiter. „Wer Deutschland nicht liebt / soll Deutschland verlassen!“ – „In einem Sarg!“, fügte ein Junge um die 12 hinzu und spuckte mich an. Aus den umliegenden Fenstern lugte einige Nachbarn. Viele verängstigt. Eine teilnahmslos. Einige verägert. Aus dem 3. OG auch Schadenfreude. Entblößt und blutig wurde ich vor ihrer Augen durch den Matsch gezogen.
     Von meinem Balkon hört ich Sam jaulen. Langgezogene Hunderufe durchschnitten die Nacht, voller Schmerz. Immer wieder setzte er an, in unseren 14 Jahren zusammen hatte ich das noch nie gehört. Ein trauervolles Lied aus Schmerz und Vermissen bohrte sich tief in meine Ohren. „Bring jemand die Töle zum schweigen, die stört noch die ganze Nachbarschaft“, sagte einer der Uniformierten. Nein. NEIN! Der stille Ältere der beiden Rekruten vom gestrigen Abend eilte pflichtbewusst nach Oben. Ein kurzes Jaulen. Ein dumpfer Schuss. Stille. Sie schleppten mich zum Lastwagen. In mir war nichts mehr.

 

Als ich im Lastwagen saß, erinnerte ich mich an einen Zeitungsartikel von 2015, der eine ähnliche Situation beschrieb. Ein junger Albaner berichtete darin über den Hass, die Verfolgung, die Angriffe auf ihn, die Denunziation durch Nachbarn und letztendlich seine Abschiebung. Er war nicht Erste, dem das widerfuhr. Aber bevor wir uns darüber klar werden konnten, dass unsere Privilegien uns nicht immer schützen werden, das irgendwann auch wir im Fokus der kalten Vernichtungsverwaltung landen, ist es schon längst zu spät. Vielleicht gehört das zu unseren Privileg, vielleicht auch zu unser Arroganz, zu unserem Paternalismus gegenüber den von uns umsorgten geflüchteten Menschen: nicht wahrhaben wollen, dass wir in dieser Reihe zwar am Ende stehen, aber in ihr stehen. Die Mahnung, überbracht durch das Schicksal derer, die am Anfang dieser Reihe standen, konnten oder wollten wir nicht hören. Wie es jetzt weitergeht, ich weiß es nicht. Dort sind die Lichter vom ICC. Auf dem Hof stehen Anna und Lena. Wir gehen, aber wir gehen zusammen.
 
"Sitting at the dock at the bay..."

By: Guru Sno Studios – Lizenz: CC BY-ND 2.0

 

Der Verrat

Kapitel I

Der Nebel lag dick und schwer auf meinen Schultern und drückte mich fast zu Boden, als ich den dörflichen Hafen betrat. Ich meinte für einen Moment, ich müsste in ihm ertrinken, als er um mich zusammenwallte und fürchtete, meine ganze Existenz würde in der schwarzen Nacht für immer verloren gehen. Die wenigen Gaslampen warfen ein flackerndes Licht auf das Kopfsteinpflaster und schufen so einige wenige verlorene Zufluchten der menschlichen Gestaltungskraft. Ihr gebrochener Schein sollte mir einen Weg weisen, doch nirgends ein Hinweis, wohin er führen würde. Unentschlossen stand ich mitten auf dem Hafenvorplatz, die Kais noch nicht im Blick, wie auch, konnte ich doch kaum einige Zentimeter weit sehen. Schon der Gedanke daran, hier nach meinem Freund auszurufen, verbannte mich in die Untätigkeit, kreiste meine Vorstellung doch darum, wie meine Worte den dicken Nebelschwaden als feister Nachtschmaus dienen würden und ihre klägliche Existenz ein jähes Ende fände. Mein Freund, ein alter Schulkamerad, mit dem ich für sechs Jahre die Bank drückte und drücken musste, so sehr wir es auch beide ablehnte und alles damit verbundene hassten, außer uns selbst selbstredend, uns nämlich liebten wir, dieser Freund also wollte mich hier empfangen und zu meiner Überfahrt bringen. Der Überseekoffer in meiner Hand wog schwer, obwohl er meine Habseligkeiten doch auf einige wenige Leichte beschränken sollte, um eine Reise ohne Hindernisse und Belastungen darzustellen. Aber gerade diese Aufgabe erzeugte ein schier untragbares Gewicht, weniger befreit, wie es die jungen deutschen Dichter allerorts noch vor einem Jahrzehnt schrieben, vielmehr umklammerte mich dieser Koffer – ein schäbiger WICO aus zweiter, wohl fettiger Hand – mit all seinen Riemen und ließ jeden Schritt zur behäbigen Herausforderung werden. Ich wandte mich um, und sah einen Gartenzaun im maritimen Grün, schon einige Jahre nicht gestrichen – womit auch, das Material ist knapp in diesen Zeiten und den Leuten geht es schlecht – und ein kleines Schild ragte aus dem trüben Grau auf, darauf stand in abgeblätterter Zaunfarbe „Keils Gasthof“.  Und nun, wo ich es las, hörte ich neben den üblichen Geräuschen einer Nacht im jungen Jahr auch leises Stimmengemurmel aus Richtung des Gasthofes wahr, zwei Männer, die anscheinend zulange, es waren ja die frühen Morgenstunden, die Gläser mit billigem Fusel gefüllt hatten, und deren Gespräch sich im breiten Platt nur stockend hin- und her bewegte. Zwischendrin dann einmal der Ausruf: „Lewer dood as Slaav!“ Ich wich vom Zaun zurück, an dem Punkt hatte ich genug gehört. Die Rhetorik der beiden Trunkenbolde schien mir ein Zeichen zu sein, dass es nicht die Art von Rüganern war, deren Hilfe ich in Anspruch nehme konnte oder überhaupt auch nicht wollte.

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April 1964 by Jeremy J. Shapiro // CC-BY-SA-3.0

April 1964 by Jeremy J. Shapiro // CC-BY-SA-3.0

Wir sind umgeben von Machtverhältnissen, die uns in Beziehung zueinander setzen und unsere Positionen in der Gesellschaft definieren: werden wir als Männer oder Frauen wahrgenommen, als heteronormativ oder mit anderen sexuellen und amourösen Präferenzen, als weiße Deutsche oder als person of color. Oft erkennen wir das, versuchen uns gegen diese Machtverhältnisse zu positionieren und haben individuelle Re-Positionierungen, um innerhalb einer Welt, die uns oft zum Verzweifeln bringt, unseren Platz zu finden.

Dabei sind wir enorm abhängig davon, was dieses „Ich“ in der Gesellschaft, und die Gesellschaft an sich überhaupt bedeutet.  Einige Vertreter der Kritischen Theorie haben ein mal mehr, mal weniger entmutigendes Bild darüber gezeichnet, wo das Individuum in einer Gesellschaft scheinbar ohne immanente Widersprüche steht und welche Handlungsmöglichkeiten für die einzelnen oder organisierten Menschen bestehen, den Weg in eine befreite Gesellschaft zu bereiten. 

Bei vielen Menschen ist es bereits eine Unverschämtheit, wenn sie Ich sagen. – Adorno, Minima Moralia, S. 55

Der Literaturkreis soll über ein Jahr sich mit den wichtigsten Werken der Kritischen Theorie in Bezug auf das Thema „Individuum und Gesellschaft“ beschäftigen. Der Literaturkreis soll offen gestaltet werden. Menschen, die sich schon mit den Themen beschäftigt haben mögen ihr Wissen an Einsteiger_innen vermitteln und sich an der kritisch-reflexiven Diskussion bereichern.

Wenn ihr Lust habt, euch zusammen mit anderen Menschen und in lebhaften Diskussion mit der Literatur zu beschäftigen, schreibt mir doch eine Mail an meetinmontauk – ## ät ## – die-genossen.de – dann bekommt ihr eine Einladung mit verbindlichem Ort zur Einführungsveranstaltung. Kosten fallen keine an, Literatur sollte es an den entsprechenden Bibliotheken geben.

Das ist kein Universitätskurs. Man bekommt hier keine Creditpoints. Das ist der Versuch einer unabhängigen Organisierung von interessierten Einzelpersonen.

Einführungsveranstaltung:
Datum: 14. Februar 2014
Zeit: 17:00 Uhr
Ort: Berlin-Friedrichshain (tba)

 

Jeah, da hat sich jemand die Mühe gemacht und die ganzen Werke von H.P. Lovecraft, die es im Gutenberg-Projekt gibt, ins EPUB-Format zu bringen, quasi das Standardformat für eReader wie die Sony PRS-Reihe oder den Kindle von Amazon.

Was genau das Buch beinhaltet?

The Complete Works of H.P. Lovecraft contains all the original stories which Lovecraft wrote as an adult. It begins in 1917 with “The Tomb” and ends in 1935 with his last original work “The Haunter of the Dark.” The book is ordered chronologically by the date the story was written. Because Lovecraft was a terrible businessman and left no heirs to his intellectual property, all of his works are already in the public domain. I did not include collaborations or revisions because some of those works may still be under the co-author’s copyright.

Wer sich da noch nicht reingelesen hat: einer der intensivsten Horror- und Schauergeschichtenautoren, die ich bisher kennengelernt habe. Auf dem Setting, dass seine Storys entworfen haben, basieren heute RPGs, Filme und PC-Spiele. Reinlesen lohnt sich also.

[via LoadBlog]

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