Dank der Kartenspende einer Bekannten habe ich mit Alex einen echt netten Abend im Berliner Ensemble verbringen können. Dort laufen gerade Feierlichkeiten zu Thomas Bernhards 80. Geburtstag (den der gute Herr nicht mehr miterleben darf, starb er doch schon 1989) und in diesem Rahmen wurde aus seinem Werk “Wittgensteins Neffe” von Hermann Beil gelesen.

Zuerst zum Vortragenden: nun bin ich schon eine ganze Weile keine hohe Kultur mehr gewöhnt, es fehlt Geld, Zeit und daraus folgend Motivation. Deshalb mögen meine Ansprüche nicht der Maßstab sein, aber Herr Beil hat wirklich einen sehr  mitnehmenden Vortragsstil. Mitnehmend, weil er einen fesselt und ins Werk gleiten lässt, gleichwohl aber nicht einschläfernd ist, sondern in all seiner Flüssigkeit doch immer wieder jede Monotonie umgeht und aufweckend daherkommt. Der vortragende Text korrespondierte damit.

Dieser nämlich überspitze jede Monotonie in Wortwiederholungen aufs äußerste. Ein Reiz, dem ich mich nur schwerlich entziehen konnte, der mich sicher beim Lesen nerven würde, aber im Vortrag ungeheuer humoristisch klang. Der Inhalt des Werks ist vordergründig die Beziehung des Thomas Bernard zu Paul Wittgenstein, dem Neffen des Philosophen Ludwig Wittgenstein. Ausgehend von einem zufällig gemeinsamen Aufenthalt in einer Klinik, die sowohl Lungenkranke als auch “sogenannte Geisteskranke” beherbergt, wobei Bernard zu den Lungen-, Wittgenstein zu den Geisteskranken zählt, reflektiert Bernard seine Beziehung zu Wittgenstein. Diese Reflektion ist geprägt von Vergleichen zum eigenen Leben, der Analyse von Geisteskrankheit im Vergleich zum eigenen literarischen Schaffen und zum eigenen Leben, und man hört Bernard viel mehr über sich sprechen als über Paul Wittgenstein, der ihm ein Freund in Musik und intellektuellem Austausch ist. Schnell bekommt man das Gefühl, dass Bernard Paul Wittgenstein als Rechtfertigung benutzt, als Vergleichsobjekt, zu dem er intime Kenntnisse hat. Zwar stellt er die richtigen Fragen, beispielsweise nach der Abgrenzung des gesellschaftlichen Normalzustands und der Verrücktheit. Aber diese Benutzung des Paul lässt erkennen, dass er hier nicht über einen Freund schreibt, sondern eine beliebige Person aus seinem Umfeld, auf die er passenderweise seine Gedanken projizieren kann – mit etwas Wehmut und teilweise Selbsterkenntnis, die ihn zumindest das Verhältnis zu Wittgenstein kurz vor seinem Tod überdenken lässt, den er in dieser Situation aus Furcht vor sich alleine gelassen habe.

Gedanken und Erzählform dieses autobiografischen Werkes sind also meisterlich, der Mensch dahinter und die abgebildete menschliche Beziehung sind es keinesfalls. Vielmehr sind selbstmitleidig, unfähig und ausnutzend. Ob sich Thomas Bernard über diese Schwäche, die er damit offenlegt bewusst war? Ich weiß es nicht. Vielleicht war es seine Intention, genau das aufzudecken, vielmehr bin ich aber der Überzeugung, dass er ohne schlechtes Gewisses diese Veröffentlichung getätigt hat.

Und so jagt man im Wahnsinn der Intellektualität für einen Aufsatz über Mozart 380km der Tagesausgabe der Neuen Züricher Zeitung hinterher.