Wendepunkt der Geschichte? - Ein Gleis führt durch die Demilitarisierte Zone der koreanischen Staaten. Bild unter CC BY-SA 2.0.

Wendepunkt der Geschichte? – Ein Gleis führt durch die Demilitarisierte Zone der koreanischen Staaten. Bild unter CC BY-SA 2.0.

 

Manchmal ist es sehr leicht, sich in Berlin zwischen den Häuserschluchten zu vergraben, seinen Rechner anzuschalten, ins All oder ins ferne phantastische Gefilde abzutauchen und zu vergessen, dass die Welt sich da draußen weiterdreht Hätte ich das gesamte Jahr 2014 verschlafen, würde ich wahrscheinlich aufwachen und mir denken: Was zur Hölle ist hier eigentlich passiert, seit ich weg war? Wenn man aber mitten drin ist, wenn man alles mitbekommt als Tagesmeldung oder als Twitter-Nachricht oder als Facebook-Link, dann erscheint das alles sehr banal und unterkomplex. Der Wendepunkt schleicht sich in den ahistorischen Alltag ein, er wird zu einem Teil der eigenen Lebensgeschichte und erscheint weniger unspektakulär als die großen Ereignisse der Weltgeschichte in den Lehrbüchern der Schule oder den alten Lexika-Wälzern.

Sind wir denn an einem Wendepunkt? Ist nicht eigentlich „alles wie immer, nur schlimmer“? Vielleicht waren ja Wendepunkte immer schon „wie immer“. Der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Dazu kommt, dass wir die Spezifika unserer historischen Situation nur selten wahrnehmen. Die historischen Vergleiche, die wir in Deutschland ziehen, sind in ihrer Singularität oft eine unzureichende Warnung. Wir mahnen, dass Auschwitz sich nicht wiederhole – aber verbleiben in der Mahnung entweder zu abstrakt oder zu konkret. Das macht sich in unserer Hilflosigkeit bemerkbar, die uns überkommt, wenn wir gerade nicht dem Prototypen des glühenden Nationalsozialisten gegenüberstehen, sondern uns mit den zeitgemäßen Auswüchsen menschen- und demokratiefeindlicher konfrontiert sehen.

Die Ereignisse des vergangenen Jahres waren für mich in ihrer Konstellation ein Wendepunkt der deutschen Geschichte. Sie stehen – natürlich – in unmittelbarem Zusammenhang mit den internationalen Machtverschiebungen und Entwicklungen, verbleiben aber im nationalstaatlichen Rahmen.

  • Auf internationaler Ebene (I) ist in den vergangenen Monaten die Ausbreitung der IS-Bewegung wohl die zentrale Entwicklung im Machtgefüge der Welt. In nur wenigen Monaten sind bedeutende Teile der arabischen Welt in die Hände einer Bewegung (!) gefallen, die sich mordend ihren Weg zur Macht bahnt. Ihr ist nicht auf diplomatischen Wege beizukommen, da sie entgegen der Selbstbeschreibung kaum Strukturen der klassischen Nationalstaaten ausbildet: mit wem sollte man beim IS schon sprechen? Sie sind auch gar nicht auf die Kommunikation angewiesen – ihre Kommunikationsstrategie ist die einer hippen Firma von Jungunternehmern anstatt den Gepflogenheiten des internationalen Parketts zu folgen. Community Manager statt Außenpolitik-PR. Gleichzeitig macht mir noch mehr Angst, dass man aus den Gebieten, die der IS unter seiner Kontrolle hält, kaum Berichte über den Alltag erhält. Wohin sind all diese Menschen verschwunden? Was passiert da? Und wie wird die restliche Welt dieser neuen Machtstruktur begegnen, die nicht mal den Versuch macht, sich an menschliche Grundsätze der internationalen Gemeinschaft zu halten?
  • Auch auf der internationalen Ebene (II) ist der Umgang mit Russland beachtenswert. Meine Generation kennt den Kalten Krieg nur aus den Geschichtsbüchern, die Mätzchen der kalten Krieger auf beiden Seiten waren immer einen ungläubigen guten Lacher wert. Wir wuchsen auf in dem Bewusstsein, dass man ja jetzt menschlich einfach weiter sei und sich die Vernunft durchgesetzt habe und man nun vernünftig miteinander umgehen würde in der Staatengemeinschaft. Konflikte würden sachorientiert auf internationalen Konferenzen ausgetragen. Pustekuchen. Die Ukraine hat das alles umgeworfen und zumindest mir eine Schrecksekunde des drohenden Krieges auf europäischem Boden versetzt. Nicht einmal 1000 Kilometer von meiner Haustür weg, eine Strecke, die man in 1 1/2 Tagen abfahren kann. Krieg. Es kam dann doch alles anders als befürchtet, aber selbst als Mensch mit akademischer Vorbildung fällt es mir schwer, zu durchblicken warum die russische Staatsführung sich so positioniert wie sie es tut und warum westliche Staaten so agieren, wie sie es tun. Vielleicht finde ich einfach keinen Zugang zur Denkweise der Prä-90er, die man braucht, um sich in diesem Konflikt zu positionieren. Für mich steht am Ende eine Ukraine, die von ukrainischen Faschisten regiert wird und von russischen Faschisten gespalten wird. Ich hab hier keine Seite, die ich anfeuern kann. Und das macht mich (und sicher viele andere Menschen) noch hilfloser als eine grobe Vorstellung „Gut“ und „Böse“ zu haben, wo man die „gute Seite“ moralisch milde kritisiert, während man die andere Seite dämonisiert.
  • Und erst jetzt komme ich zu den nationalen Rahmenbedingungen. Als erster Punkt seien die rechten Straßenbewegungen genannt. Schon am Ende des vergangenen Jahres gingen tausende Menschen für angeblichen Frieden auf die Straße, bejubelten Putin, verteufelten den Westen und erklärten die Machtkonstellationen auf diesem Planeten mit platten antisemitischen Erklärungsmustern. Die Resonanz war – zumal in Berlin – so groß, dass man sich ihr nicht entziehen konnte. Aus meiner Generation kannte jeder eine_n, die_der sich begeistert von den Friedensmahnwachen zeigte, was sicher nicht unerheblich damit zusammenhing, dass wir als Teenager mit Ken Jebsen auf Fritz! aufgewachsen sind und viele ihn als Sprachrohr ihrer Jugend verstanden. Auf der anderen Seite standen – nicht nur in Berlin – die rassistischen Proteste gegen Asylbewerber_innen, die nicht nur in Berlin hunderte Menschen auf die Straßen trieb, um ihren Protest gegen vorgeblich die Unterbringung von Flüchtlingen in ihrer Umgebung, grundsätzlich aber gegen das Konzept „Asyl“ an sich zu formulieren. Begleitet wird dieser Protest durch eine beängstigende Entwicklung von Angriffen und Übergriffen auf Asylbewerber_innen und Unterkünfte. Überall im Land brennt es, werden Hakenkreuze geschmiert, werden Menschen gejagt. Und geht es da um Menschen, die erst ankommen, geht es zwei Straßenzüge weiter um Menschen, die schon angekommen sind und mit Pauschalverdächtigungen und rassistischen Stereotypen angegriffen werden: in West-Deutschland mit HoGeSa – Hooligans gegen Salafisten – und in Ost-Deutschland, vor allem Dresden – mit PEGIDA (Patriotische Europäer [!] Gegen die Islamisierung des Abendlandes) versammeln sich abertausende, um gegen Muslime zu hetzen. Organisatorisch getragen werden alle diese Bewegungen von den Akteuren der extremen Rechten und von Rechtspopulist_innen, kommen tun aber alle. Es ist keine Jugendbewegung, es sind keine Subkulturen. Es ist Deutschland. Und mag man die Mengen von den einzelnen Veranstaltungen herunterspielen und betonen, dass es ja nicht die Mehrheit der Bevölkerung sei, die dort auf die Straße geht: diese Bewegungen sind miteinander vernetzt und sie sind m.E. der Ausdruck einer Mentalität einer gesamtdeutschen Bewegung, die sich von Staat und Demokratie distanziert, die Menschenrechte und Gleichheitsvorstellungen ablehnt, die freie Presse als systemgebunden darstellt und nur ihrem eigenen Narrativ (der sich in der Kombination der Bewegungen nicht widerspruchsfrei, aber machtvoll weiterentwickelt).
  • Wichtigstes Vernetzungsmedium für Narrativ und Bewegung ist dabei Facebook. Es sind nicht „die sozialen Netzwerke“. Es ist Facebook. Man benutzt kein Twitter, man benutzt auch kein Jappy.  Google Plus spielt nur in der Verknüpfung von YouTube-Accounts eine Rolle. Diese Bewegungen und ihre Zielgruppen sind über Facebook vernetzt, auch untereinander. Und dieser Umstand wird in den bisherigen Analysen kaum angesprochen. Denn das Spezifikum Facebook erlaubt es erst, sich in dieser Form zu organisieren. Facebook zensiert zwar, aber höchst willkürlich. Es handelt nach amerikanischen Maßstäben (in der nackte Haut ein höheres Eskalationspotential hat als Mordaufrufe) und weigert sich beharrlich, proaktiv und steuernd in den politischen Kontext einzubringen. Gleichzeitig wird die Firma auch nicht in die Pflicht genommen, gesetzlich beschränkt. Schlagwort ist – ob nun in Politik oder bei Strafverfolgungsbehörden – der Auslandsserver. „An Facebook kommen wir nicht ran – die Server stehen im Ausland“ – dass diejenigen, die diese Server finanzieren, nämlich die Unternehmen, die auf Facebook Werbung schalten, in Deutschland sitzen könnten, darauf ist niemand der medienkompetenten Elite gekommen. Und so verbleibt auch die Mitgliedschaft von Facebook in deutschen Initiativen gegen Gewalt im Netz ein Lippenbekenntnis. Mord- und Vergewaltigungsaufrufe werden erst nach Monaten – wenn überhaupt – gelöscht. Moderation ist ein Fremdwort, von bewusster politischer Positionierung ganz zu schweigen. Und das wird sich fortsetzen. Das deutsche Gemüt kann auf den tausenden Nein-Zum-Heim-Seiten in Ruhe das Zündeln an den Asylbewerberunterkünften sich zurechtreden, bevor es zur Tat schreitet.
  • Demokratischen Widerhall findet das in Deutschland in Formen der neuen und alten Parteien der extremen Rechten. Die AfD nimmt darin eine herausragende Position ein und führt das Rechtsaußenspektrum mit großem Abstand an. Als Sammelbecken verschiedener demokratieverdrossener Bewegungen profitiert sie von den Straßengeschehnissen und kann gleichzeitig mit organisatorischer und medialer Unterstützung sich andienen. Denn entgegen dem „Lügenpresse“-Narrativ ist Bernd Lucke ein gefragter Talk-Show-Gast in den politischen Sitzfleischrunden dieser Republik, und zwar regelmäßiger als linke Positionen, deren Meinungshoheit angeblich ja erst gebrochen werden müsste. Die AfD redet kaum noch über den Euro, ihre vormals zentrale Position. Sie verharrt auch wirkungslos in den Parlamenten und sie hat interne Konflikte, die man sonst nur noch bei dem Gespenst der Piratenpartei sieht. Und trotzdem ist ihr Zulauf hoch. Sie ist die Partei der unausgesprochenen bürgerlichen Ressentiments. Während HoGeSa, PEGIDA und NZH-Bewegungen die Grenze des Machbaren verschieben, mit rechten Straßenschlachten und angezündeten Asylbewerberunterkünften, verschiebt die AfD und der Facebookmob die Grenze des Sagbaren. Eine Bewegung, die sich gegenseitig bedingt und sich immer stärker um sich selbst dreht.
  • Während Facebook seine soziale Verantwortung schlicht nicht wahrnimmt, werden auf der anderen Seite im digitalen Raum viele emanzipatorische Entwicklungen der letzten Jahrzehnte angegriffen oder ausgeschaltet. Selbstschutz im digitalen Raum wird enorm erschwert. Ein kurzer Überblick über die Hiobsbotschaften des Jahres 2014: keiner weiß, wie lange SSL-gesicherte Informationen dank des Heartbleed-Bugs von Diensten und Blackhats abgeschnorchelt wurden; TrueCrypt hat unter ungeklärten Umständen als unabhängige und benutzerfreundliche Verschlüsselungslösung für Datenträgerverschlüsselung sich abgeschaltet und damit eine große Lücke hinterlassen; jüngst ist die populärste Lösung für zensurfreie Webnutzung – das TOR-Projekt – unter heftigem Beschuss und ob der Dienst weiterbetrieben werden kann, ist nicht absehbar. Hinzu kommen hunderte kleinere Meldungen, die den Eindruck der Wende zur „kontrollierten Verschlüsselung“ aufzwängen. Kontrollierte Verschlüsselung heißt in dem Fall: Cryptolösungen für Anwendungsfälle, die als staatlich relevant anerkannt werden: zur Wahrung von Geschäftsgeheimnissen bspw.; darunter fällt aber nicht und ganz ausdrücklich nicht zivilgesellschaftliches Engagement. Für diese Fälle haben bei kommerziellen Verschlüsselungslösungen staatliche Unternehmen im Regelfall Hintertüren, die Zugriff auf die Daten erlauben.

Gerade die Themen Asyl, AfD und Ausländerhass werden in den nächsten Tagen das Hauptgesprächsthema in den Familienzusammenkünften werden. Jeder wird den Onkel oder Cousin in der Familie haben, die Oma oder die Mutter, den Vater oder Opa, der oder die sich verständnisvoll bis begeistert über die rassistischen Proteste zeigen wird. Die Meinungsvielfalt wird sich von gemäßigt rechts bis beinharten Nazi-Parolen bewegen, aber viele werden mit der Erkenntnis nach Hause kommen: „Shit. Das ist die Mitte der Gesellschaft.“ Oder sich in Selbstzweifel über seine solidarischen Positionen begeben: „Wenn selbst meine Familie komplett die Gefahr der Islamisierung sieht, vielleicht ist dann doch was dran?“ Die Weihnachtsfeiertage werden die Inkubatoren der rassistischen Saat sein.

Ab jetzt kann alles ganz schnell gehen. Schwarz-Braune Bündnisse zeigten sich in Thüringen, zeigen sich im Verständnis für „berechtigte Sorgen“. Das Bündnis aus CDU und SPD ist der Meilenstein eines postdemokratischen Gesellschaftssystems: die knapp 80% Parlamentsmehrheit der Regierungsfraktionen haben nichts mit lebendiger Opposition oder auch nur streitbarer Demokratie zu tun, sie sind das Symbol der technischen Regierungsform, Business as usual. Wir stehen seit einigen Jahren am Übergang in ein postdemokratisches Gesellschaftsystem und jetzt werden im Widerstreit zwischen entpolitisierten und entmoralisierten Institutionen (Sicherheitsbehörden als prägnantes Beispiel) und dem forderungslosen Aufstand der Mitte der Bevölkerung gegen alles, was Demokratie und Menschenrechte ausmacht, seine Grundpfeiler gelegt. Menschliche Positionen, von emanzipatorischen ganz zu schweigen bleiben dabei weitestgehend außen vor, darüber kann auch kein linker Ministerpräsident hinwegtäuschen.

Immer wieder lese ich auf Facebook „Wehret den Anfängen“. Oder: „kein zweites Lichtenhagen“. Oder: „das hatten wir alles schonmal“. Ich werde wütend und traurig bei dieser linken Folklore. Wir stehen nicht am Anfang einer Entwicklung. Hier ruckt nichts mehr nach Rechts. Wir sind mittendrin, hilflos, ohnmächtig, vereinzelt. Und die Geschichte wendet sich hier und jetzt.

 

2 Responses to Wendepunkt der Geschichte?

  1. Die ökonomischen Wendepunkte, national (abwicklung des Opel-Werkes!, Verflechtung von konservativ-administrativer Macht mit den Flüchtlingsunterkünften, Durchsetzung der SPD-Gewerkschaftsreglementierung) sowie International (Russlands „neue“ Krise, Frackingblase in den USA, Chinas Konzernsterben (Solar-, Windanlagenbau, Energie-Konzernpleiten), und „europäisch“ (Spaniens Demonstrationsverbot, Vorgehen der Ermittlungsbehörden gegen Servernetz) fehlen mir. Und eine genauere Beschreibung, was unter einem Wendepunkt verstanden wird.

    • Hannes sagt:

      Die Aufzählung kann nur subjektiv und individuell verbleiben. Das macht auch das Thema „digitaler Selbstschutz“ deutlich, das mir heute den Anlass zum Schreiben gegeben hat und das ich als Kontrapunkt da stehen haben wollte um zu zeigen, dass selbst die Rückzugskämpfe der „guten Seite“ torpediert werden. Es mag da missplatziert sein. Und gerade dafür sind die Kommentare ja ein guter Aufhänger: gibt es einen Wendepunkt und wenn ja: welche Entwicklungen stehen damit noch im Zusammenhang? Die ökonomische Sicht bedarf einer gewissen Fokussierung, die mir fernliegt. Genauso wird die Fokussierung auf rassistische Mobilsierungen und außenpolitischer Reaktion für viele als Wendepunkterklärung nicht ausreichend sein (und so ist auch das Fragezeichen im Titel gemeint).

      Vielleicht schaffe ich es in den nächsten Tagen, herauszuarbeiten was ich mit dem Wendepunkt zu einer postdemokratischen Gesellschaft konkreter meine, und warum er sich von unserem klassischen ereignis-historischen Verständnis von „Wendepunkten“ (z.B. Kriegserklärungen und Friedensverträge) etwas unterscheidet und quasi prozess-historisch zu verstehen ist.

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