"Sitting at the dock at the bay..."

By: Guru Sno Studios – Lizenz: CC BY-ND 2.0

 

Der Verrat

Kapitel I

Der Nebel lag dick und schwer auf meinen Schultern und drückte mich fast zu Boden, als ich den dörflichen Hafen betrat. Ich meinte für einen Moment, ich müsste in ihm ertrinken, als er um mich zusammenwallte und fürchtete, meine ganze Existenz würde in der schwarzen Nacht für immer verloren gehen. Die wenigen Gaslampen warfen ein flackerndes Licht auf das Kopfsteinpflaster und schufen so einige wenige verlorene Zufluchten der menschlichen Gestaltungskraft. Ihr gebrochener Schein sollte mir einen Weg weisen, doch nirgends ein Hinweis, wohin er führen würde. Unentschlossen stand ich mitten auf dem Hafenvorplatz, die Kais noch nicht im Blick, wie auch, konnte ich doch kaum einige Zentimeter weit sehen. Schon der Gedanke daran, hier nach meinem Freund auszurufen, verbannte mich in die Untätigkeit, kreiste meine Vorstellung doch darum, wie meine Worte den dicken Nebelschwaden als feister Nachtschmaus dienen würden und ihre klägliche Existenz ein jähes Ende fände. Mein Freund, ein alter Schulkamerad, mit dem ich für sechs Jahre die Bank drückte und drücken musste, so sehr wir es auch beide ablehnte und alles damit verbundene hassten, außer uns selbst selbstredend, uns nämlich liebten wir, dieser Freund also wollte mich hier empfangen und zu meiner Überfahrt bringen. Der Überseekoffer in meiner Hand wog schwer, obwohl er meine Habseligkeiten doch auf einige wenige Leichte beschränken sollte, um eine Reise ohne Hindernisse und Belastungen darzustellen. Aber gerade diese Aufgabe erzeugte ein schier untragbares Gewicht, weniger befreit, wie es die jungen deutschen Dichter allerorts noch vor einem Jahrzehnt schrieben, vielmehr umklammerte mich dieser Koffer – ein schäbiger WICO aus zweiter, wohl fettiger Hand – mit all seinen Riemen und ließ jeden Schritt zur behäbigen Herausforderung werden. Ich wandte mich um, und sah einen Gartenzaun im maritimen Grün, schon einige Jahre nicht gestrichen – womit auch, das Material ist knapp in diesen Zeiten und den Leuten geht es schlecht – und ein kleines Schild ragte aus dem trüben Grau auf, darauf stand in abgeblätterter Zaunfarbe „Keils Gasthof“.  Und nun, wo ich es las, hörte ich neben den üblichen Geräuschen einer Nacht im jungen Jahr auch leises Stimmengemurmel aus Richtung des Gasthofes wahr, zwei Männer, die anscheinend zulange, es waren ja die frühen Morgenstunden, die Gläser mit billigem Fusel gefüllt hatten, und deren Gespräch sich im breiten Platt nur stockend hin- und her bewegte. Zwischendrin dann einmal der Ausruf: „Lewer dood as Slaav!“ Ich wich vom Zaun zurück, an dem Punkt hatte ich genug gehört. Die Rhetorik der beiden Trunkenbolde schien mir ein Zeichen zu sein, dass es nicht die Art von Rüganern war, deren Hilfe ich in Anspruch nehme konnte oder überhaupt auch nicht wollte.

Ich tastete mich weiter vor, meine Erinnerungen an den Hafen waren – soweit durch die Wirren der letzten Jahre gerettet – nur sporadisch und lückenhaft vorhanden, gleichsam auch von sonnigen Tagen der Sommerferien geprägt, sodass eine Übertragung ins schwarz-grau-kalt meiner unmittelbaren Wahrnehmung nicht nur unmöglich, sondern vielmehr auch frevelhaft erschien. Und so suchte ich blind – in Sinn wie in Gedanken – die Hafenbegrenzung, weg vom Gasthof und den unangenehmen Zeitgenossen, die dort zechten. Schritt um Schritt in die Unsicherheit hinein, die mein neues Leben werden sollte. Dunkelheit, immer mehr, hinter mir der Gasthof, hinter mir das treue Fahrrad, das mich über die Insel brachte, hinter mir die Kirche, die keinen Schutz und keine Hoffnung bot – Gott hatte von diesem Flecken Erde schon vor Jahren erkennbar sein Antlitz abgewandt und jeden Hilfeschrei, in letzter Konsequenz auch meinen, der ihn doch so sehr verabscheute und trotzdem anflehte, konsequent ignoriert und zum Leiden verdammt – hinter mir der Zug, der mich bis nach Stralsund trug und in ihm die uniformierten Bastarde, die meinem Vorhaben ein jähes Ende hätten setzen können, hinter mir also alles, was mich trieb. Und vor mir die Dunkelheit. Einige Wellen im beruhigten Hafenbecken, einige Vögel, einiges Kriechgetier. Die unregelmäßige Stille setze mir zu, verbannte sie mich doch in meine eigenen Sinne und ließ mich immer wieder an all dem Zweifeln, was meinen Mut bisher aufrechterhalten hatte. Die schillernde Abwesenheit meines Freundes trug  ihren Teil dazu bei und versetze mich in einen angstvollen Zustand, der hier, an der Schwelle zur Endgültigkeit der Entscheidung, jedes Stück meines Körpers und jeden Winkel meiner Gedankenwelt erfasst. Die Folgen, sollte León nicht auftauchen, waren unabsehbar für mich, und ich erwog, dass ein einfacher Sprung ins Hafenbecken mir alles ersparen würde, was danach kommen könnte. Ich stellte mir vor, wie ich einen Schritt über die unregelmäßig gemauerte Kante machen würde und mit Anzug und Schuhen hinein in die grüne Schwärze sänke. Der Koffer, dieser vermaledeite, würde schon dafür sorgen, dass ich selbst im Augenblick der Panik, die den Ertrinkenden dann ergreift, wenn seine Luft zuneige geht und er reflexhaft die Oberfläche sucht, nur Sekunden, bevor sich wie von Geisterhand sein Mund öffnet und die Lungen mit Wasser geflutet werden, in diesem Augenblicke also, in der ein geneigter Beobachter aus seiner gläserneren Kuppel unter dem Wasser erkennen würde, dass sich beim Ertrinkenden vor Angst und Überlebenswillen in schierer Anstrengung das Weiße in den Augen zeigt, in diesem letzten Augenblick also, wo man am Rande zwischen Sterben und Leben steht, dort würde mein Koffer mich umfassen, seine Riemen um meine Hände und Füße legen, mir jede Bewegung verunmöglichen und mich als sterbender, gleichsam schon toter Mann auf den pflanzenüberwachsenden Grund des Hafenbeckens sinken lassen. Mein letztes Gefühl wären die Seegewächse, die meine Füße umschmeicheln und mir zumindest die Gewissheit geben würden, dass die Natur immer auf meiner Seite stand.

Just in diesem Moment erreichte ich besagte Hafenmauer, stolperte fast und hätte durch ein simples Missgeschick nunmehr fast den düsteren Gedanken, die in mir umherschwirrten, die bittere Brisanz der Realität verliehen. Und schon waren diese Gedanken nur eine kurze Episode in dem hausgemachten Kerker der Dunkelheit, durchbrochen vom Drang, aus diesem Teufelsloch herauszukommen. Während meines Herumirrens zu den Hafenbegrenzungen lichtete sich das Schwarz und transformierte sich zu einem verwaschenen Schwarz-Grau, man konnte erahnen, dass in meinem Rücken die Sonne inzwischen zu ihrem Sprung über den Horizont ansetzte. Ich blickte nach links und rechts runter und sah einige Boote, die fest vertäut dalagen, keine Bewegung darauf zu erkennen. Keine Spur des Freundes irgendwo zu erblicken. Ich setze mich also auf das, was mir blieb und das was mich trieb, auf diesen großen Koffer und blickte hinüber zu einer unbewohnten Insel, auf der einige Kühe standen und, so schien es jedenfalls, schliefen. Sie versperrten mir den theatralischen Blick auf das Meer, der an diesen Stellen der Geschichte in aller Zwangsläufigkeit auftauchen musste, symbolisierte er doch die Weite der Natur und die Verlorenheit des Individuums, gleichsam die unendliche Fülle der Möglichkeiten, die sich vor dem Betrachter auftaten und ihm eine Zukunft versprachen, in dem ihm alle Wege offenstanden. Nun, hier fehlte dieser Blick, zumal der Bodden nur ein schwacher Abglanz des Meeres gewesen wäre, mit der Weite wäre es nach nur wenigen hundert Metern schon am Ende gewesen und die unergründliche Tiefe war schon nach weniger als einem Meter an vielen Stellen abgeschlossen. Der Bodden war also nicht einmal tauglich, um in Ruhe zu sterben, vielmehr musste man höllisch aufpassen, dass man als Fischer sein Boot nicht alle naselang auf Grund setze. Aber selbst der Blick auf den Bodden, diesen jämmerlichen Abglanz eines Meeres also, war mir verwehrt und zwischen zwei Nebelschwaden ergab sich mir die ganze theatralische Reichweiter einer schlafenden Gemeinschaft aus Rindviechern.  Und so diente dieser Koffer mir als Sitzgelegenheit, während ich starrte und wartete und wartete und hinüber auf die menschenleere Insel starrte, die sich ab und an zwischen den Nebelfetzen zeigte. Die Zeit verstrich, und ich konnte nicht sagen, ob Minuten oder Stunden vergangen waren, ich verfiel in ein dumpfes Brüten, da sprach mich mit rauer Stimme jemand hinter meinem Rücken an: „Min Jung, zu so früher Stunde, was tut ein feiner Kerl wie du an den Booden?“ Ich drehte mich um, und sah einen alten Fischer, der mich kritisch beäugte, mit einem dampfenden Pott voller Kaffee in der Hand. Echter Kaffee! Wo doch überall nur der Schlamm herausgegeben wurde, bitter und widerlich, den Menschen angemessen, die ihn trinken mussten. Er fragte erneut, sichtbar bemüht, hochdeutsch zu sprechen: „Nun sag schon, kann man dich helfen? Sitzt herum wie de trauriger Tropf und schust aus, als ob de was ausgefressen hast. Hier kunnst nicht bleven, et is bestimmt verbooten, traurig in die Gegend rumzusitzen.“ Immer noch erstaunt, antwortete ich: „Juten Morgen, mein Herr. Ist dat echter Kaffee? Der Jeruch lässt vermuten, dass et den nich auf Karte gab.“ Er zwinkerte mir zu und machte sich an einem Boot nur wenige Meter von mir entfernt zu schaffen. „Erwischt!“, rief er, während er zwei Netze an Deck hiefte, „Den hat min Muddern mi jemacht. Kann de nicht verraten, wo det herkommt.“ – „Nun, dann kann ick auch nicht verraten, wo ick herkomm.“ – „Na, einer von den feenen Berliner Herren tust du sein, hört mang doch. Aber will auch nicht weiter fragen. Hier, trink aus, Jung.“ Er kam zu mir rüber und gab mir den Kaffeepott, noch halb gefüllt und wunderbar duftend, wie ich es seit Monaten nicht mehr kannte. Ich nickte ihm dankbar zu, und sah nun auch sein Gesicht. Die Bartstoppeln umrahmten tiefe Furchen, die der Wind und das Alter rund um niktongelb-blaue Augen und eine herbe Mundpartie mit rissigen Lippen gegraben hatte. Eine Narbe ging an seinem Hals entlang, vielleicht aus dem ersten Krieg, vielleicht ein Arbeitsunfall, wer konnte das schon wissen. Ein müdes Lächeln entfleuchte ihm, als er mein genussvolles Einatmen des Dampfes aus dem Pott zufrieden zur Kenntnis nahm. Er schlurfte zurück zum Boot und begann weiter, die Vorbereitungen für sein Tageswerk zu schaffen und sang dabei leise vor sich hin, wohl von schönen Frauen und dickem Fisch, die Fixpunkte des Fischerlebens, wie mir schien. Mir kam der Gedanke, dass die Revolution an der Küste wohl nur dann erfolgreich gewesen wäre, hätte Trotzki vorher die dicksten Fische in die Ostsee gesetzt und Richtung Rügen getrieben. Spinnerei, fiel ich meinen Gedanken ins Wort, Revolution ist so weit entfernt wie nie, und Trotzkis Fische wären für die Parteiführung gewesen, nicht für den Fischer. So wie das Brot nicht für die Bauern war, und das Eisen nicht für die Proletarier.

Es klapperte im Nebel und der Bug eines winzigen Bootes durchbrach den Nebel. Sowohl der alte Fischer als auch ich schauten auf, er verwundert, ich angstvoll und aufgeregt zugleich. Und tatsächlich, der Freund hatte es hergeschafft. León steuerte auf die Hafenmauer zu. León, das war León Sergholz, ein feines Gesicht auf mit rötlichen Haaren auf dem grobschlächtigen breiten Körper eines Arbeiters ohne Arbeit. Kind eines Finanzbeamten und einer kunstschaffenden Hausfrau, der er seinen französischen Namen zu verdanken hatte, der ihm zeitlebens zum Fluch geworden ist, wurden wir auf dem Internet, in das uns unsere Eltern verbrachten, gute Freunde, sehr zum Ärger der Lehrer und des Rektors im Besonderen. Jeden Unfug heckten wir zusammen aus, und er bastelte Fallen mit unübersehbarer Kreativität eines Kindes der Aufklärung, das kein Vertrauen in Gott und kein Respekt vor der Autorität hatte, während ich mit meiner Bauernschläue den Lockvogel spielte und den alten Roderich unter den absurdesten Vorwänden in die Fallen verbrachte, nur um dann gemeinsam mit León Fersengeld zu geben, um den wütenden Stockschlägen Roderichs zu entkommen. Und so gingen die Jahre ins Land, und unsere Wege trennten sich, er ging in die Fabrik, wollte mit den Händen arbeiten, wollte nahe bei seiner Klasse sein und hielt es für seine oberste Pflicht, abends krummgebuckelt am elterlichen Tische zu sitzen und sich ihr Unverständnis über seinen Lebensweg anzuhören. Irgendwie schafft er es, nicht an die Front zu müssen, und die letzten Wochen verbrachte er in dem Sommerhaus seiner Eltern auf Hiddensee, dort wo seine Mutter so gerne die die windschiefen Apfelbäume malte, die sie zum Unverständnis der Inselbewohner dort hochwachsen ließen. Er erinnerte sich noch gut an mich, als ich ihm schrieb, in unserer geheimen Schrift, die wir als Jungens entwickelt hatten. Er hätte da was für mich, schrieb er mir als Antwort auf meine Bitten und er würde es für mich organisieren. Um unser alter Freundschaft willen und für die gemeinsame Sache, die in diesen Tagen keine Wichtigere sein können, wo doch jeder auf sich alleine gestellt war und die Nachbarn dein größter Feind, dein Volk die schrecklichste Geißel und deine Klasse die abtrünnigste Menge überhaupt war. Ich bat ihn, mein Leben zu retten und er sprang mir ohne zu zögern und ohne darauf zu verweisen, dass es sein eigenes gefährden könne, bei. Wir verabredeten uns für diese Nacht und nun, da war er, entgegen aller Unsicherheiten und Gefahren, er blieb dabei, das Tor zu meiner Rettung zu sein. Ein nervöses Schaudern ging durch meinen Körper, als er auf mich zu ruderte, das Segel gerafft und das Boot so sehr am Schaukeln, das mir Angst und Bange wurde, wie es uns weiter bewegen sollte. Mit einem schelmischen Grinsen stand León auf und winkte mir zu, durchschnitt den Nebel, in dem er mir ein Tau zuwarf und mir deutete, dass ich das Boot heranziehen und festmachen sollte. Ich muss mich etwas ungeschickt angestellt haben, denn sowohl der alte Fischer als auch León brachten ein heiseres Gelächter hervor, bevor sich mein Freund an Land begab. Ich schaute ihn hilflos an, und mit kräftigen Zügen vertäute er das Schiffswerk fest an der Eisenstange, die zu diesem Zwecke aufgestellt ward. Danach wandte er sich um. „Es ist gut dich zu sehen. Komm her“, und bevor ich mich versah, „lass mich dich umarmen!“ Seine breiten und schwieligen Hände klopften mir vom Rücken her die Luft aus der Lunge, während er mich von vorne zu zerquetschen drohte. „Schlecht siehst du aus, aber das muss ich dir nicht sagen“, komplementierter er mich, „deine Nachricht hat mich wohl im letzten Augenblick erreicht. Aber zuerst, was hat der alte Alfred hier zu suchen?“ Er schaut zu dem Fischer, der nun breitbeinig über seinen Netzen stand, hinüber und musterte ihn kritisch. Alfred für seinen Teil spuckte nur aus und meinte gelassen: „Schon gut, ik mach min Kram und will kin Ärger.“ Ich nickte ihm dankbar zu und verabschiedete mich, in dem ich meinen Hut kurz lüftete, sein Kaffee hatte meinen düsteren Gedanken der Nacht weitestgehend vertrieben und mein Ende am Boden des Hafenbeckens sehr nachhaltig verhindert – einen größeren Dienst konnte man mir, neben dem, den der León hier tat, in diesem Moment gar nicht tun. „Nun denn, können wir?“, fragte ich meinen Freund? Er nickte und wollte mit den Koffer abnehmen. Doch mit aller Kraft hielt ich daran fest, und ein lautes „Nein!“ entfuhr mir, das auch den schon auf seinem Boot weilenden Alfred nochmals sichtlich zusammenzucken ließ. Etwas gedämpfter dann: „Nein. Entschuldige, ich nehme ihn.“ Und als ich auf das Boot hinabkletterte, merkte ich, dass es nicht nur düstere Gedanken waren. Der Koffer war mit mir verwachsen, seine Seele griff in meine, seinen Riemen banden meinen Körper und so ward ich in Ketten, in anderen als denen, denen ich zu entfliehen ersuchte, gleichwohl schwere Ketten, die mir keinen Raum für ein freies Handeln ließen. Ich ward vorherbestimmt, aller Agnostik zum Trotze, die mir einen Gedanken daran verbot und in die Welt des Irrelevanten schob.

Wir legten ab, sollten mich doch so Wenige wie möglich sehen, und Alfred war, obwohl freundlich, schon einer da drüber gewesen. In der Kürze eines Momentes ging in Gedanken meine Hand unter den Mantel, und es hätte wohl übel für Alfred geendet, aber ich schüttelte diesen Gedanken herunter wie ein Hund die lästige Fliege verscheucht. León ruderte uns um die Steine vor dem Hafen herum auf den Bodden und ließ einen letzten Blick auf das Dorf erhaschen, die Kirche, die darüber ragte und an dessen Mauer der Pfarrer nach dem Aufstehen ein altes, aber treues Fahrrad finden sollte, mit halbplatten Reifen und die Kühe auf dem kleinen Eiland gegenüber des Hafens, wo die Rinder und Kühe nun langsam sich bewegten, wie Geister durch den Nebel stapften und große Dampfwolken ausschnaubten. All das verschwand aus meinem Sichtfeld, auch wenn ich mich sicher mit der schon einige Zeit notwendigen Brille, die ich teils aus Stolz, teils aus Armut nicht besaß, noch etwas länger an dem Anblick ergötzen hätte können. Aber sowohl die Brille als auch die Klammheit um mein Herz nahmen mir die Muße, mich dem malerischen Anblick zu widmen. „Sie haben mir gesagt, sie kämen erst in einigen Tagen“, brummte León vom Ruder her, „Es tut mir leid, aber du wirst wohl einige Tage auf Hiddensee bleiben müssen.“ Erstaunt sah ich in an. „Aber was, wenn mich jemand bemerkt? Die Zeit ist keine, in der junge Männer durch die Gegend ziehen und ihren Sommer zur Entspannung dort verbringen.“ Er nickte, seine Sorgen nicht verhehlend. „Ja, so ist es, aber ändern können wir daran nichts.“ Ich sank enttäuscht in mich zusammen. Hier könnte es also alles scheitern. Wenn nur einer die falschen Fragen stellt, einer ans Festland meldet oder einer im schwarzen Hemd dort weilt und mich auftat, das wäre das Ende, dachte ich mir. „Wie ist’s um Kathrin bestellt? Hast du mit ihr sprechen können?“, fragte mein Fährmann mich, wohl, um mich auf andere Gedanken zu bringen. Nur zögerlich antwortete ich: „Ihr wird’s gut gehen, wie immer, wann ging’s ihr denn mal schlecht. Wird sich in Gesellschaft befinden, sie ist ja nie ohne. Das Leben wird sie genießen. Sie hat’s mitbekommen, aber es hat sie nicht geschert, ihr Leben war ihr wichtiger.“ León schaute bestürzt. „Hab dir gesagt, das Mädel bringt Unglück. Aber nun sei’s drum, drüben wirst du sie schon vergessen.“ Ehrlich gesagt, diese Hoffnung hegte ich auch. Gebrochenen Herzen wird nachgesagt, sie verheilen schnell, gerade wenn der Frühling naht, und ihr Bruch wird durch kräftiges Bier und frische Liebe schnell geheilt. Aber es war etwas an Kathrin, das über den Sommer hinausging und mich ähnlich an den Meeresgrund ziehen wollte, etwas, das mich auch an Land ertrinken ließ, sodass ich mich einige Male vorfand, wie ich nach Luft schnappte, weil mir der Gedanke an unseren Sommer jedwede Materie, die man zum Leben brauchte, aus dem Leib presste und sich wie ein eisernes Gewicht auf die Brust zu legen vermochte. Jetzt starrte ich über den Bootsrand hinaus, hörte von irgendwo ein tiefes Nebelhorn, und fragte mich ernsthaft, vor wem oder was ich hier wirklich fliehen würde. Der Dienst an der Menschheit mochte ein nobles Ziel sein, die Rettung der Völker ein Satz, der in die Geschichtsbücher gehörte, aber hinter wie vielen dieser Heldentaten stand die Unfähigkeit, seiner eigenen Gefühle gewahr zu werden und über dem eignen Schmerz zu stehen, anstatt bei der ersten Gelegenheit zu fliehen, wie ein scheues Reh durch den Wald, unter dem Vorwand, die Welt zu retten? Ich vermochte nicht zu sagen, wie ich hier hergekommen war. Es wurde mir langsam aber gewahr, dass es hier kein Zurück mehr gab, keine Möglichkeit, mich der Verantwortung zu entziehen, egal aus welchem Grunde ich sie auf mich genommen hatte. Mein Rücken straffte sich, nicht unbemerkt von León. „War wohl falsches Thema, hm?“, brummte er, „Lass uns dann lieber drüber reden, wie es jetzt weitergeht. Die Insel ist recht leer, der Sommerurlaub hat noch nicht eingesetzt. Einige Fremde aus Berlin sind da, wohl keiner, der dich kennen dürfte. Wir sollten trotzdem keine Risiken eingehen, du bleibst im Sommerhaus, wir haben genug Literatur für einen wie dich“ – hörte ich da Belustigung ob meines akademischen Daseins? – „und ich kümmere mich ums Leibliche. Sieh du nur zu, dass du mit keinem sprichst und dich nicht draußen zeigst, und in wenigen Tagen kommt dein Passierschein.“ Ich zog die Augenbraue hoch. „Bist du sicher, dass hier niemand auf der Insel ist, der mir gefährlich werden könnte?“ „Ist es denn nicht gleich, ob ich sicher bin? Du kannst auch nach Schweden schwimmen, wenn’s dir nicht passt, mehr kann ich hier nicht für dich tun.“ „Gemach, mein Freund, ist gut so, wie du es geplant hast. Ich hab nur Angst, wenn ich ehrlich bin, Angst, das hier alles sein schnelles Ende findet.“ „Ach wo“, beruhigte er mich, „im Notfall weiß sich die Arbeiterklasse immer noch zu wehren.“ Er lüftete eine raue, grob gemachte Plane und drunter kam ein alter Karabiner zu Vorschein, mit drei Kerben im Holz. Lächelnd schaute er mich an. Ich nickte ernst. Dann versanken wir in ein brütendes Schweigen, während die Sonne nun aufging und direkt auf Leóns Gesicht schien, während er uns mit kräftigen Ruderschlägen übersetzte. Seine roten Haare schimmerten leicht, dort, wo Nebeltropfen sich niedergelassen hatte oder sich mit den Perlen der schweißtreibenden Arbeit vermischten. Es war das angestrengte Gesicht eines Freundes, von dem ich mir nie zu erhoffen wagte, was er nun tat, und aus der puren Not, aus der ich in an mich wandte, wurde zu dem Zeitpunkt die tiefe Verbundenheit erneuert, die uns als Kinder verband. Nur ging es nicht mehr darum, dem alten Roderich einen groben Streich zu spielen. Vielmehr stand ein ganzes Reich uns entgegen, das mit unnachgiebiger Grausamkeit nach mir suchte – nur wusste es das noch nicht.

Der Kaffeegeschmack in meinem Mund veränderte sich, neben dem wohligen umrundeten Bitteren kam ein eiserner Ton hinzu. Der Nebel legte sich über meine Zunge und schmeckte nach dem Blut derer, die ich in ihm zurückließ. Die Schuld wog schwer, doch welchen Ausweg gab es, aus diesem Höllenloch, zu dem ein verstoßener Gott meine Heimat hatte werden lassen? Und während der Nebel alles in sich aufnahm und aufsog und auffraß, lichtete er sich, nahm die Geister meiner Gedanken mit sich in die See und gab den Landungssteg von Vitte frei, der vom Ufer her mir entgegenthronte und eine Einladung auf das letzte Stück Heimat war, bevor ich für immer gehen sollte. Mit einem harten Knallen warf ich den Koffer hinüber und setze Fuß auf die Insel.

 

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