Klirrende Kälte empfängt einen frühmorgens um 8 Uhr an einem Sonntag in Berlin im Dezember. Der erste Advent legt sich noch als schläferige Kollektivverweigerung über die Stadt. Der Hund streckt sich und gähnt, als ich die Tür zur Geschäftsstelle in der Pflugstraße öffne.

Ich bin kein Mitglied der Piraten. Jedenfalls nicht dass ich es wüsste, ich bekomme trotzdem immer Zahlungsaufforderungen per Mail. Verwirrend. Ich war es aber mal, vor langer Zeit, in Brandenburg. Idealismus, Vertrauen in die Parteiendemokratie, Jugendlichkeit, Netzszene. Der Umzug nach Berlin, bunte politische Biografie, die ich irgendwann mal in all ihren Widersprüchen zusammenfassen sollte, damit Menschen mich verstehen. Ich habe glaube ich schon mal bei allem links der CDU reingeschaut und mich drüber aufgeregt.

Mein Blick ist irgendwo zwischen interner Beobachter und externer Fan. Meine tieferen Einsichten beschränken sich auf die Berliner Ebene und auf Sachen, die tagtäglich durch meine Twitter-Timeline rollen. Ich arbeite nahe an den Piraten, aber nicht in der Partei.

Deswegen war ich am Wochenende auch in Berlin und nicht in Bremen. Trotzdem, ich wollte – auch um meinen Job vernünftig zu machen – mir den Parteitag aus sicherer Entfernung anschauen. Zusammen mit Gero habe ich mich darum gekümmert, dass Interessierte sich gemeinsam den Stream anschauen konnten - eine sehr angenehme Sache, das Angebot haben dann auch einige Personen wahrgenommen.

Ausgestattet mit viel Essen und noch mehr Getränken, Beamer und einem Livekommentar von Gero, der mir das Who-ist-Who der Partei erklärte, verfolgten wir also seit Samstag den Bundesparteitag.

Chaos – im Guten wie im Schlechten

Die Vorstellung praktischer direkter Demokratie ist immer noch bestechend. Jeder kann einfach zum Bundesparteitag fahren und mitbestimmen. Direkte Demokratie, keine Machtriege, der Schwarm, geil! Die Ernüchterung verbleibt, wenn man sieht, welche chaotischen Zustände das mitunter auslöst. Fast alle Zeitungen berichten spöttisch über Geschäftsordnungs- und Tagesordnungsschlachten, die die Versammlung bestimmten. Was vor einigen Jahren sympathisch war – und auch heute noch sein kann – kann einer Partei, die sich in einem gefühlten Allzeittief befindet, das Genick brechen.

So verblieb auch der Eindruck: die Leitung der Versammlung schwankte zwischen Professionalität und dem verzweifelten Versuch, Produktivität aus dem Parteitag herauszukitzeln – rechtlich nicht immer einwandfrei. Zumindest blieben Fragen offen. Chaos mit Chaos zu beantworten verschenkte hier Potential. Man kann der Versammlungsleitung zu Gute halten, dass sie es zumindest geschafft hat, den Vorstand einigermaßen zu besetzen – was den Anwesenden aber zu denken geben sollte. Die verwirrenden und schlecht vorbereiteten Wahlverfahrensversuche trugen nur zur Verschlimmerung der Situation bei.

Zwischen Professionalisierung und Dilettantismus glitzerten immer wieder einzelne Punkte hervor. Beispielhaft, an dem Punkt, wo durch eine schlechte Übersetzung die Rede der schwedischen Piraten-Vertreterin zu einer Farce verkam. Dabei war es respektabel, dass sich jemand darum kümmern wollte, und das Engagment ist der Person anzurechnen.  Aber warum gibt es für diesen geplanten Auftritt keine Vorbereitung? Das Redemanuskript lag ja anscheinend vor.

In dem Ablauf merkt man auch, wie sich bestimmte Prozesse aus dem Netz in den zeitlich und räumlich eng abgegrenzten Raum des Parteitages übertragen: die Empörungskultur, die den kurzen Kick des „Ich-hab-auch-mal-was-zu-sagen“ über den Erfolg einer konstanten und tiefen Debatte stellt, ist davon wohl das Unangenehmste.  Dieser Debattenform sollte in Zukunft intensiv entgegengewirkt werden.

Tagesordnung from Hell

Im Vorfeld zum Parteitag gab es einige Punkte, die einer Debatte auf dem Parteitag bedurften. Dazu zählten:

  • Innerparteiliche Quotenregelungen
  • Die Europa-Wahl und die Vorschläge zu einem Europawahlprogramm
  • Innerparteiliche Willensbildungsprozesse

Diese drei – sicherlich sehr subjektiven Punkte – hätten, wäre es zu einer ordentlichen Debatte gekommen, ein Befreiungsschlag für die zerstrittenen Gruppen in der Partei sein können. Der Befreiungsschlag blieb aus.

Die Ausgestaltung als Wahl-Parteitag führte dazu, dass – immer wieder mit der Begründung, die Partei bräuchte populäre Köpfe, die Programmpunkte vermittelten – sich nur auf die Vorstandswahlen konzentriert wurde. Dabei war im Vorfeld absehbar, dass diese populären Köpfe gar nicht erst zur Wahl antreten würden. Die Konzentration darauf mag auf einer richtigen Fehleranalyse beruhen, sie hat aber auf diesem Parteitag keinen Mehrwert in Form einer stabilen und kraftvollen Umstruktierung des Vorstandes gebracht. Die Menschen, die jetzt an der Spitze der Partei stehen, müssen sich selbst erst einmal aufbauen und auf der Bundesebene positionieren. Kein leichter Job, zumal mit der Entscheidung, das Führungspersonal der Partei weiterhin nicht zu bezahlen – außer dort, wo ansonsten die Person auf Sozialleistungen angewiesen wäre – auch für die Zukunft keine Perspektiven professioneller dauerhafter Arbeit jenseits von Burn-Out eröffnet und populäre Vertreter_innen der Partei mit ihrem Bedürfnis nach gerechter Bezahlung alleine lässt. “Mit dem BGE wäre das alles besser”, bekommt man da zu hören. Stimmt. Aber auch im Kommunismus wäre alles besser. Und wir haben weder BGE noch Kommunismus, so deal with it.

Einer der wenigen Lichtblicke der Veranstaltung war im Übrigen die Reaktion auf den “In der Partei herrscht KRÖÖÖÖG!”-Kandidaten, der verdientermaßen ein Meer von “Zeige Respekt”-Karten für seine NPD-Parteitagsrede bekommen hat. Das hat mir gezeigt, dass die Partei Selbstreinigungskräfte hat und zu klaren Bekenntnissen fähig ist – die müssen nur stärker nach Außen vertreten werden.

Ein Europa der Quoten

Die im Vorfeld heiß geführte Quotendebatte ist aus meiner Perspektive ein Symptom einer intensiv geführten Diskussion zwischen einem links-emanzipatorischem Teil der Piraten und einem bürgerlich-liberalen. Ich habe schon früher darauf verwiesen, dass ich einen sehr linken Kurs für diese Partei für einen guten und richtigen Kurs halte, deswegen wird meine Analyse nicht sehr überraschen: mit der Vertagung der Debatte um die Symptome wurde gleichzeitig auch der Diskurs um die grundsätzliche Ausrichtung der Partei vertagt, und auch darüber, wie man die Gruppen untereinander versöhnen und zur Zusammenarbeit bringen kann. Das wird – und das ist den Piraten zu Gute zu halten – gerade nicht über einen Vorstand passieren, sondern nur über die knallharte inhaltliche Debatte und über die Abstimmung durch die Basis. Aber diese Chance wurde ungenutzt gelassen. Dass der Vorstand zur Hälfte mit Frauen besetzt ist, feiern  die Quoten-Gegner_innen als Bestätigung ihrer Position.  Ausgeblendet wird, dass sowohl die Posten des Vorsitzenden und des Politischem Geschäftsführers weiterhin von Männern besetzt werden. Männer dominieren also die Spitzenpositionen der Piraten. Das wird konsequenterweise dann auch von Außen so wahrgenommen.  Teil des Problemes, für das Quoten eine Lösung bringen können, sind fehlende weibliche Kandidaturen. Die Orientierung an anderen Parteien, die mit Quoten und Doppelspitzen Werkzeuge einer emanzipatorischen Parteiführung entwickelt haben, blieb aus. Dabei können gerade Doppelspitzen auch eine Politik der Einigung zwischen parteiinternen Konflikten herbeiführen.

Und dann ist das noch das Ding mit der Europawahl. Der Kater nach der Bundestagswahl scheint große Teile der Partei gelähmt und in Schockstarre hinterlassen zu haben. Zwei Komma X Prozent, das würde auch nicht für Plätze im Europaparlament reichen. Da braucht es also eine organisatorische Neuaufstellung, flankiert durch eine konsequente Vermittlung von relevanten Inhalten im Rahmen einer starken Personaldecke. Relevante Inhalte sind aus meiner – subjektiven – Perspektive: Kritik an der Re-Nationalisierung der europäischen Staaten, dem Einstehen für ein solidarisches Europa nach Innen und nach Außen, daraus folgend ein Ende der “Macht-durch-Schulden”-Politik und eine menschenwürdige Asylpolitik durch Abriss der Festung Europa. Am Ende des Parteitages war aber eher der Eindruck: „Aus Zeitgründen müssen die Piraten ihre Teilnahme an den Wahlkampfvorbereitungen leider absagen. Bitte ziehen Sie über Start und ziehen Sie keine 4000€ ein.“

Die Katerstimmung überschattet also die produktiven Chancen der Partei. Das Chaos während des Parteitages erstickt jedes Aufbegehren enagierter Arbeit. Die Konsolidierungsphase der Partei wird sich weit über das Jahr 2014 erstrecken. Eine langfristigere Planung – vielleicht sogar die ehrliche Nicht-Teilnahme an der EU-Wahl – scheint mir die einzige realistische Perspektive zu sein.

Im Maschinenraum 

Dazu kommt eine erbitterte Tool-Belt-Diskussion. Mit Liquid Feedback, Basisentscheid Online, Ständige Mitgliederversammlung und Dezentralen Parteitagen sind zahlreiche Möglichkeiten der Teilhabe der Basis an der Parteiarbeit in Produktion. Dem stehen rechtliche Bedenken, Konkurrenzen und persönliche Animositäten entgegen. Die Piraten brauchen nur in wenigen Punkten eine starke Führung. In dieser organisatorischen Sache scheint sie angebracht. Hier muss vermittelt und mit Hochdruck entwickelt werden. Denn wo diese Debatte einerseits einer der schlimmsten Spaltungsfaktoren innerhalb der Basis ist, so ist sie doch gleichzeitig eine der wichtigsten Perspektiven, die Partei zu professionalisieren und gleichzeitig den Idealismus einer Teilhabe-Partei in die bittere Parteienrealität zu transformieren. Mit kompetenten Entwickler_innen, Berater_innen und Jurist_innen sollte sich ein schlagkräftiges Team aus den einzelnen Fraktionen bilden, das an einer funktionierenden Einigung arbeitet.

Und dann kann man auch die Debatte um das Chaos führen. Delegiertensysteme auf den Parteitagen scheinen dann reizvoller und machbarer, wenn die Basis weiterhin machtvolle Möglichkeiten erhält, sich über Stimmungsbilder und direkten Delegationen (die on-the-fly entziehbar wären), einzubringen. Oder wenn zentrale Richtungsentscheidungen schon im Vorfeld oder im Zwischenfeld von Parteitagen getroffen wären.

Führungsfrust

Und während die Partei vor diesen Aufgaben steht, die viel Arbeit erfordert, aber kurzfristig kaum Früchte tragen wird, steht der Vorstand vor der Mammutaufgabe, genau diese Umstände erstmal zu reflektieren, Konsequenzen zu ziehen, Potentiale zu analysieren und damit Wahlen vorzubereiten. Parteifinanzierung wird bei gefrusteten Mitgliedern ohne wirkliche Zahlungspflicht ein wichtiger Nebenschauplatz bleiben. Kommunikation von Alleinstellungsmerkmalen – wie zum Beispiel einer schon seit einiger Zeit richtungsweisenden Asylpolitik – muss erfolgen, “while its fresh and juicy.” Andere Parteien übernehmen ständig im Copy-and-Paste-Verfahren die Inhalte der Piraten. Fahrscheinfreier ÖPNV? Solidarische Asylpolitik? NSA- und Whistleblower-Debatte? Es scheint, als wären die Piraten eine gefahrlose Avantgarde, die für linke Parteien als ausgelagerte Inhaltsproduzentin genutzt wird. Deswegen muss der Zeitvorteil genutzt werden: Pressearbeit aufbauen, professionalisieren und nicht in idiotischen Attacken verkommen lassen.

… und der nächste folgt sogleich

Der nächste Parteitag ist nur einen Monat entfernt. Er bietet Chancen, die Fehler des unbefriedigenden Bundesparteitags 2013.2 zu korrigieren. Das Korrektiv muss dabei ganz klar auf eine dauerhafte und stabile Veränderung ausgerichtet sein, die die Basisstürme überlebt und auf Jahre einen festen, strategischen Kurs setzen kann. Die Chance der Stabilität wurde im Übrigen durch das nicht gewährte Vorstandsgehalt deutlich geschmälert. Wer gute und intensive Arbeit leisten soll, sollte das auch in der bürgerlichen Gesellschaft vergütet bekommen. Es ist – Arbeit!

Meine Empfehlung verbleibt immer noch: die inhaltlichen und organisatorischen Debatten sollten zentralisierter – d.h. über ein Publikationsorgan mit möglichst parteiweiter Reichweite – und tiefgründiger geführt werden. Es braucht parteinahe, aber unabhängige Think Tanks, die Kompetenz und Strategie mit ideologischer Grundlagensuche verbinden.

Nutzt die Chance, liebe Piraten, die Relevanz und der Erfolg kommt dann von allein. Und seid vor allem eins: geduldig.