[tl;dr: Linken Think Tank aufbauen, um einer emanzipativen Bewegung, deren Teil die Piraten sein könnten, das theoretische und handlungsoptionale Fundament zu geben, dass sie im politischen Diskurs contra de facto schwarze Alleinherrschaft dringend benötigt.]

Als ich am vergangenen Sonntag auf meinen Wahlzettel runtergeschaut habe, war ich immer noch schwer am Überlegen. Als einer der ersten in Friedrichshain stand ich schon 8:30 Uhr im Wahllokal. Ich mag kein Anstehen und ich will Sachen abarbeiten, so funktioniere ich. Ich hatte mir vorgenommen, meine Stimmen sinnvoll zu splitten. Einerseits den Ströbele zu kippen, andererseits einer Partei in den Bundestag zu verhelfen, von der ich hoffte, dass sie dort mehr Profil zeigt als sie es jetzt gerade kann. Und dann stand ich da. Der Plan war gut, aber ungültig machen schien mir ähnlich sinnvoll zu sein. Nicht, weil ich die Piraten nicht mehr im Bundestag sah – das stand ja schon eine Weile fest – sondern weil ich daran zweifelte, was ich mit der Wahl der Partei erreichen wollte. Ich lasse hier offen, ob ich ungültig gestimmt habe oder der bürgerlichen Demokratie meine höchstpersönliche Legtimation überreicht habe.

Aber auch auf dem Weg nach Hause, der Hund rannte eh ständig vor und wollte sich nicht bespielen lassen, kam ich aus dem Nachdenken nicht heraus. Warum ist diese Partei eigentlich so zahnlos, so zerstritten, so seltsam dual? Auf der einen Seite haben wir effektive Fraktionen, die in den letzten Jahren Wähler_innen überzeugen konnten und es sich nach einiger Anlaufzeit in den Parlamenten bequem gemacht hatte. Sie sticheln die Regierungen, stellen kluge Fragen, entwickeln Expertise. Manche mehr, manche weniger. Manche Menschen wollen in diesem Abgeordnet_innen-Status sein, manche fühlen sich sichtlich unwohl. Sie haben die üblichen politischen Wehwehchen, die letztendlich doch nur die Menschen hinter den Zahnrädern des Politikbetriebes darstellen. Und sie erscheinen, mal mehr mal weniger, seltsam losgelöst von der Partei. Diese wiederrum leistet sich genau das, was andere Parteien sich auch leisten – aber für alle transparent. Die ganzen Kleinkriege, die ganzen Richtungs- und Personalkämpfe sind offen einsehbar. Für Parteiaktivist_innen sind sie durch die digitale Vernetzung nicht ausblendbar. Wo der CDU-Kreisverband seine monatliche Sitzung hat und ansonsten jeder sein Ding macht, ist man bei den Piraten jederzeit (an-)greifbar. Fehden werden dauerzeit ausgetragen, ständig müssen politische Entscheidungen getroffen werden, die die Richtung der Partei verändern oder die eigenen Positionierung erfordern. Viele Aktivist_innen haben sich in Diskursen über Sexismus, Post-Gender und Feminismus, über Post-Privacy, über rechts-links-Schemata und Extremismustheorien total aufgebraucht. Es ist leicht, aus dem Off anzugreifen und aus allen digitalen Rohren zu feuern. Die Filterbubble in herkömmlichen Parteistrukturen, das sieht man vom externen Blickwinkel, funktioniert einfach besser.

Als ich darüber nachdachte, was mir eigentlich an den Piraten gefällt, kam ich recht schnell auf: Berliner Realpolitik. Die Arbeit im AGH, die Arbeit in den Bezirksparlamenten. Aber die Partei ist nicht nur Berlin, auch wenn ihr das sichtbar gut täte. Ich erinnerte mich auch dunkel an die Arbeit in den anderen Landesparlamenten, aber natürlich ist mir das Lokale vertrauter. Ich habe mich immer wieder gefragt: warum hat man davon im Wahlkampf oder davor nichts gesehen. Die Plakate im Stile von „Sorry, wir versuchen es besser“ fand ich lustig, ehrlich und … teilweise falsch. Warum, liebe Piraten, wird nur das eigene Scheitern kommuniziert? Das ist gut, dass ihr das ansprecht, das macht euch greifbar und sympathisch. Aber ihr habt einige interessante Arbeit zu bieten. Stellt heraus, in welchen Bündnissen ihr lokal mitwirkt, analysiert doch mal, welche Erfolge ihr im AGH verbuchen konntet. Gerade in Berlin wäre nach zwei Jahren Piraten in der Stadt eine Zwischenbilanz sinnvoll gewesen. Ich will wissen, was aus meiner Stimme von 2011 geworden ist, die ich als Vertrauensvorschuss gegeben habe. Hat sich das gelohnt, sollte ich das bei der Bundestagswahl wieder machen? Wenn diese Frage versucht wurde zu beantworten, dann nicht so, dass es bei mir ankam. Ich will dem nicht hinterherrennen müssen. Ich bin ein fauler Wähler. Einer, der daran zweifelt, ob er überhaupt wählen soll. Ihr habt es nicht gerade attraktiver für mich gemacht.

Und dann ist da die Sache mit den Inhalten. Und hier wirds ernst. Ihr habt ein Bundesprogramm, richtig? Meine Assoziation mit den inhaltlichen Vorstellungen der Piraten ist folgende: „Bedingungsloses Grundeinkommen“. Nach Wochen mit Plakaten überall und nach aufmerksamen Nachrichten lesen ist mir nichts (!) anderes im Kopf geblieben. Wenn ich so drüber nachdenke, bin ich sogar verwundert, wo eure vielbeschworenen Kernkompetenzen hin sind. Ich habe keine Ahnung, wofür ich das Kreuz gemacht habe oder hätte. Was wollt ihr denn, und dann noch wie, im Bundestag vertreten? Und während diese gähnende Inhaltsleere in meinem Kopf sich mit eurem Parteilogo verbindet, komme ich Zuhause an. Den Hund habe ich irgendwo unterwegs an einem Baum verloren, den er x-mal schnüffelnd umkreist und weit hinter mich zurückfällt. Ein kurzer Pfiff, und er schaut hoch. Etwas trotzig schaut er mich an, setzt sich dann aber in Bewegung. Letztendlich weiß er, dass ich immer noch die Hand bin, die ihn füttert. Und er mich ja eigentlich auch mag.

Wir stehen vor meiner Erdgeschosswohnung. Ein Nachbar kommt gerade schlaftrunken aus dem Flur. „Na, schon wählen gewesen?“ Ich nicke kurz. „Ick mach auch gleich, aber ick verrat nicht wen.“ Sehr gut, er hat das mit den Grundsätzen der geheimen Wahl verstanden. Mein Lächeln ist freundlich, aber trotzdem rumort es in mir: was der Typ wohl wählt? Sympathisch ist er ja. Also vielleicht Linke. Aber dafür ist er zu hip. Grüne? Nein, das passt nicht. Er ist zwar biodeutsch, aber kein Bio-Deutscher. Vielleicht hat er über die Piraten nachgedacht. Darüber, dass er in den letzten Monaten nur Chaos erlebt hat, dass ein Haufen seltsame Leute sich über Themen stritten, die ihm absolut nichts sagten. SMV? LiquidFeedback? Ich glaube, er will einfach wissen, wie sich die Piraten verhalten werden, wenn wieder deutsche Soldaten unsere Freiheit in irgendeinem Gebirge dieser Welt verteidigen sollen und dabei in schönster Wehrmachts-Tradition Krieg spielen dürfen. Oder wie die Piraten eigentlich dieses bedingungslose Grundeinkommen, was ihm ja ganz gut in den Kram passen würde wenn er die Gallerie aufmachen will, überhaupt bezahlen wollen.

Es fehlt an Richtung. Es fehlt an Diskurs. Dort wo Menschen sagen, sie wollen sachgerechte Entscheidungen treffen, bleibt die politische Richtungsentscheidung auf der Strecke. Dem deutschen Politikbetrieb mangelt es an wirklichen politischen Debatten. Man streitet sich um Zahlen, wo man sich um Ideen streiten sollte. Die „alternativlose“ Politik der Regierung Merkel ist Träger dieser Politik-Kultur und die Piraten sind dafür schon von ihrer technokratischen Ausrichtung her anfällig. Wer Politik ausschließlich über Sachargumente „lösen“ will, unterwirft sich einem Determinismus, der Diskurse blockiert.

Die Piraten müssen Mut haben, sich ein Profil zu geben. Dabei dürfen sie nicht die wirtschaftsliberale Rolle der FDP einnehmen, die es zum Zeitpunkt meiner Gedanken nur noch wenige Stunden mit einer Bundestagsperspektive geben soll. Die Ron-Paul-libertäre Ausrichtung mag vielleicht erklärtes Ziel einer starken und diskursübertönenden Fraktion in der bundesweiten Perspektive sein. Aber das ist nicht das Potential, welches in den Piraten steckt, das haben die Wahlergebnisse gezeigt. Sorry, aber ihr könnt ruhig etwas mehr Anarchie wagen – und das so sagen. Das Potential steckt in einer starken und modernen linken Ausrichtung. Dort, wo kritische Theorie ihre realpolitischen Anknüpfungspunkte findet, liegt die wahre Stärke der Partei, würde sie ihre Aktivist_innen an Bord halten können. Ihr ganzes Konzept sagt „Herrschaftskritik“, jetzt muss das klare Bekenntnis zur praktischen Umsetzung kommen. Feministischen, antirassistischen, antifaschistischen, ideologiekritischen, sozialraumanalysierenden Positionen muss Raum gegeben werden. Es muss ein gemeinsames Wertesystem entwickelt werden, das sich in den realpolitischen Entscheidungen widerspiegelt. Idioten, die das seit Jahren torpedieren muss eine klare Absage erteilt werden. Nazis bei den Piraten? Rauskicken, sofort, konsequent. Antisemit_innen? Kein Zaudern, absägen. Dazu müssen Strukturen geschaffen werden. Dazu müssen Inhalte erdacht werden. Dazu müssen – und das ist das wichtigste – Menschen, die die Schnauze voll hatten, aktiviert werden.

Inzwischen habe ich mir frischen Minz-Tee gemacht und mich an meinen Schreibtisch gesetzt. Vor mir liegen Bücher, Adorno/Horkheimer zum Beispiel oder Mahlmann’s Übersicht zur Rechtsphilosophie. Ich denke über Diskurstheorien nach. Legalistisch müsste man neue Verfahren erwirken, wirklich mal beim Urschleim anfangen und nicht nur vom Demokratie-Update reden, sondern drüber nachdenken: welche Demokratie, welche Institutionen, welche Verfahren will ich eigentlich wie updaten? Kann ich den Gesellschaftsvertrag auch ohne die AGBs gelesen zu haben mit einem Klick aufs entsprechene Kästchen abschließen? Welche demokratische Teilhabe ermögliche ich wem und warum? Das kann natürlich keine ganze Partei machen.

Wenn man frustrierte Exil-Pirat_innen einbinden will, braucht man eine außerhalb der Partei stehende Organisation. Einen sogenannten Think-Tank, der das linke Profil schärft und ein gesamtgesellschaftliches Konzept der Piraten und ihnen nahestehender sozialer Bewegungen aufzeigt, gleichzeitig aber ökonomisch und personell teilweise unabhängig agiert. Der Positionen entwickelt, an der sich die Partei orientieren kann, ohne dass sie das akademische Wissen, das dahintersteht, individuell sich aneigenen muss. Der Strukturen im Kleinen entwickeln kann, ohne sich durch ständige Querschüsse aus anderen Crews und Flügeln ablenken zu lassen. Eine Initiative letztendlich, die alle wichtigen gesellschaftlichen Akteur_innen an einen Tisch bringen kann, und dabei moderierend wirkt, ohne die politische Zielrichtung aus den Augen zu lassen. Das Konzept einer parteinahen Stiftung, eines Vereins, eines Think-Tanks, einer Initiative mag elitär sein. Aber mal ehrlich: dieser elitären Prägung seid ihr durch eure Rockstars in viel beschissenerem Ausmaße schon lange aufgesessen. Diese Form der Theoriearbeit, der Schaffung von praktischen Handlungsempfehlungen und der Analyse des Kenterns bindet unglaublich wichtige Menschen an euch: die linken Kräfte, die schon seit Monaten und Jahren ausgetreten sind oder über den Austritt nachdenken oder nie dabei waren. Ihr wisst wen ich meine. Deren kluge Gedanken ignoriert wurden, deren Personen attackiert wurden, deren Aktivismus blockiert wurde. Teilweise bis zur seelischen und körperlichen Selbstaufgabe. Genau deshalb muss es auch eine tragfähige Organisation sein. Wer dort arbeitet, muss dafür bezahlt werden. Das ist keine Freizeit, jedenfalls nicht für die, die ihr Studium lang geschuftet haben und nun vor der Wahl zwischen intensiver und grundlegender politischer Arbeit stehen oder Lohnarbeit, um sich zu ernähren. Bis zur Einführung des bedingungslosen Grundeinkommens (oder der sozialen Revolution) muss diese Arbeit in bezahlten Stellen geleistet werden.

Ich würde gerne in so einer Organisation gestaltend tätig sein. Meine Qualifikation in politische Arbeit einbringen. Und ich weiß, dass es vielen Menschen ähnlich geht, und dass sie mitziehen würden. Wenn wir ein starkes linkes Netzwerk aufbauen, dass den gesellschaftlichen Diskurs wieder in eine emanzipatorische Richtung verschiebt – auf parlamentarischer und außer-parlamentarischer Ebene – dann bleibt es auch nicht bei 2.2% für die Piratenpartei. Wenn in den kommenden Debatten eine kluge und moderne Wortführung übernimmt, dann hat man tatsächlich gestalterisches Potential.

Gerade in einer Zeit, in der die CDU nahezu die alleinige Macht hat, in der alles auf Law, Order and Economy hinausläuft, in der Sicherheitsarchitektur jede Dystopie der vergangenen überschatten wird und sich damit in einem internationalen Konsens der Machtsicherung bewegt, gerade da muss man anfangen, starke linke Alternativen aufzubauen. Dabei haben die Piraten das Potential, sich in eine starke Bewegung einzubinden, indem sie unterschiedlichste Gruppen und ihren gesellschaftlichen Input aufnehmen: Linksradikale, denen interessante Basiskonzepte erschließen; Linke, die sich nur schwer gegen alte SED-Genoss_innen und K-Gruppen-Kader_innen durchsetzen können; Grüne, die ihre zentralen Politikfelder verloren haben und die Bürgerlichkeit der Partei ablehnen; Sozialdemokrat_innen, denen die SPD zu beliebig geworden ist; Sozialliberale, die seit Jahrzehnten in der FDP nur noch Randfiguren waren.

Mein Tee ist getrunken. Der Hund schläft. Am Ende des Wahlabends steht mein fieberhaftes Zittern, dass die Rechtspopulisten der AfD den Einzug nicht schaffen. Und die CDU keine stabile absolute Mehrheit bekommt. Nochmal Glück gehabt. Aber wenn wir nichts unternehmen, läuft es beim nächsten Mal nicht so glimpflich ab.

Wer sich am Aufbau eines links-emanzipatorischen Think Tanks beteiligen möchte, kann sich gerne bei mir melden.

 

3 Responses to Theorie.Kentern.Praxis – Piraten nach der Wahl

  1. […] Teil der Piraten und einem bürgerlich-liberalen. Ich habe schon früher darauf verwiesen, dass ich einen sehr linken Kurs für diese Partei für einen guten und richtigen Kurs halte, deswegen wird meine Analyse nicht sehr überraschen: mit der Vertagung der Debatte um die Symptome […]

  2. Nic sagt:

    Du magst die „Berliner Realpolitik. Die Arbeit im AGH,“? Wirklich? Die vordergründig ihrem Ego dienende Arbeit eines Lauer oder Delius? Das ist nicht dein Ernst, oder?

    Ich hatte kurz darüber nachgedacht, dir etwas zum „links-emanzipatorischen Think Tank“ aufzuschreiben, aber ich lasse es wohl besser sein.

  3. […] das postenorientierte Wirken in Vorfeldorganisationen wie Parteistiftungen (Vereinen / Think Tanks, wie ich schon geschrieben habe)  oder Jugendorganisationen als Möglichkeit der parteinahen und -beeinflussenden Organisierung. […]

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